Georg Blokus: Hallo Robert! Du bist für Organizing in der Partei DIE LINKE verantwortlich. Was bedeutet Organizing im Kontext einer Partei im Gegensatz zur politischen Arbeit in lokalen Initiativen und sozialen Bewegungen?
Robert Maruschke: Organizing ist überall eigentlich sehr ähnlich, auch wenn ich das vor einigen Jahren anders erwartet hätte. Es geht ja am Ende darum, dass Menschen ihre eigenen Lebensbedingungen selbst in die Hand nehmen können und dafür die Mittel an die Hand kriegen. Wenn wir uns jetzt beispielsweise eine Mieterin vorstellen, die mit ihren Nachbar:innen redet und anfängt, sich gegen Unverschämtheiten des Vermieters zu wehren, macht es methodisch keinen Unterschied, ob eine Basisorganisation der Partei DIE LINKE oder eine andere Mieterinitiative dieses Unterfangen begleitet. Wichtig ist, dass es politische Organisationen gibt, die sie ernst nehmen und sie dabei unterstützen, mit anderen zusammen politisch wirksam zu werden. Mit Ernstnehmen meine ich, dass wir die Mieterin nicht bewerten und uns stattdessen in die jeweilige Situation einfühlen und sie verstehen wollen.
Trotzdem: Du bist ja selbst in einer Partei und in unterschiedlichen politischen Initiativen und Bewegungen aktiv gewesen. Was macht Organizing in einer linken Partei aus?
Der Unterschied zwischen Initiativen und Partei besteht meiner Erfahrung nach vor allem darin, wie sich die Beteiligten gesellschaftliche Veränderungen vorstellen und welche Rolle ihre Organisation dabei hat. Die Methoden des Organizings sind aber immer und überall möglichst systematisch, immer möglichst überprüfbar und auf den Aufbau persönlicher Beziehungen fokussiert.
Die Besonderheit, die Organizing im Kontext einer Partei mit sich bringt, ergibt sich aus der Rolle einer sozialistischen Partei in der parlamentarischen Demokratie. Und ich rate immer dazu, das selbstbewusst anzunehmen: DIE LINKE weiß, dass sehr viele Fragen von sozialer Gerechtigkeit und des Antifaschismus in Parlamenten entschieden werden und das gleichzeitig ohne außerparlamentarische Bewegungen wenig vorangeht. In dieser Gemengelage wollen wir unsere Rolle möglichst gut ausfüllen: Wir wollen gute Gesetze durchsetzen, eine verlässliche Partnerin für Initiativen und ein produktiver Teil sozialer Bewegungen sein. Dafür muss DIE LINKE nicht nur im Alltag verankert sein und in Konflikte aktiv eingreifen, sondern auch bei Wahlen gut abschneiden. Deswegen hat Organizing im Parteikontext Wahlen immer im Hinterkopf. Hierfür aktualisieren wir regelmäßig unsere Organizing-Methoden.
Robert Maruschke auf der Aktionskonferenz 2023 in Frankfurt/Main (Foto: Martin Heinlein)
Für unsere School of Transnational Organizing hast Du in Chemnitz einen Workshop mit dem Titel “1:1-Gespräche an der Haustür” angeleitet. Warum sind 1:1-Gespräche der Königsweg zum Erfolg? Obwohl im letzten Jahrzehnt viele nur über Social Media-Kampagnen gesprochen haben …
Persönliche Gespräche sind das A und O linker Politik. Wenn wir keine Avantgarde-Politik wollen, in der wenige voraus marschieren und die Masse aus welchen Gründen auch immer folgen soll, müssen wir entsprechend arbeiten. Eine linke Partei, die nicht mit ihren Nachbar:innen und Kolleg:innen redet und sie nicht ernst nimmt, hat langfristig keine Chance. Und um erfolgreich zu sein, reichen keine drei unverbindlichen Gespräche beim Bäcker – wir müssen vor Ort mit hunderten Menschen reden und insgesamt hunderttausende Gespräche führen. Anders geht es nicht.
Wir wollen eine ehrliche linke Partei sein. Und als solche wollen wir das Leben der Menschen mit ihnen zusammen verbessern und sind bereit, uns dafür mit Vermietern, Unternehmen oder Verwaltungen anzulegen. Dafür braucht es persönliche Beziehungen, gegenseitiges Vertrauen und kollektives Handeln. Das entsteht nur in persönlichen Gesprächen. Das ist kein Argument gegen Social Media, sondern für eine ehrliche Methodenkritik. Was kann eine gute Social Media-Präsenz leisten und was nicht? Was können Organizing-Gespräche leisten und was nicht?
Broschüre: Linkes Organizing – Interviews und Arbeitsmaterialien (Autor: Robert Maruschke)
Nach jeder Wahlniederlage wird ja auch von allen Seiten betont, man müsse “dorthin, wo die Menschen sind”, um “näher an den Bürgerinnen und Bürgern” zu sein. Das sind immer schöne Worte, denen dann aber doch nur halbherzige Taten folgen. Was sind die Gründe, warum sich Aktive in politischen Parteien und sozialen Bewegungen trotz aller Krisen und der Dringlichkeit gemeinsamen Handelns häufig immer noch sehr schwer tun, das direkte Gespräch mit Menschen in ihrer Nachbarschaft zu suchen?
DIE LINKE will ja nicht “nah an den Bürger:innen” sein, um nah an den Bürger:innen zu sein. Wir wollen die Welt verändern, weil wir wissen, dass viele auf dem Reserverad fahren und das jetzige Wirtschaftsmodell nicht nachhaltig ist. Das fängt bei Müll in der Nachbarschaft an und geht bei den Mieten weiter. Das Organizing-Team der LINKEN empfiehlt immer: hört zu, bleibt in Kontakt und fangt an, gemeinsam zu handeln. Und wir tun uns nicht schwer: Jene Kandidat:innen der LINKEN, die so arbeiten, haben Erfolg. Dass Eva-Maria Kröger Bürgermeisterin in Rostock ist, liegt nicht daran, dass ein Blitz am Neuen Markt in Rostock eingeschlagen hat, sondern dass sie und ihre linken Genoss:innen in Rostock seit 13 Jahren den Leuten zuhören, Dinge in Bewegung bringen und im Wahlkampf methodisch vieles richtig gemacht haben.
Alle Welt spricht ja gerade über Intersektionalität … Wo siehst Du die Vorteile des direkten Gesprächs über die vielschichtigen Erfahrungen von Diskriminierung und Ungerechtigkeit im Vergleich zum solidarischen Teilen von Stories auf Instagram & Co.?
Linkes Organizing in den USA war schon sehr früh konfrontativ und gleichzeitig offensiv intersektional. Einzelne Gewerkschaften im 19. Jahrhundert oder die Kommunistische Partei der USA in den 1930er Jahren waren politisch ihrer Zeit weit voraus. Die Bürgerrechtsbewegung und die feministische Bewegung nach 1945 haben die linke Organizing-Tradition weiter intersektional geprägt.
Linkes Organizing entwickelt sich methodisch natürlich weiter. Wir können jetzt soziale Netzwerke nutzen und – wie Du sagst – Stories auf Instagram teilen. Ohne Instagram, TikTok usw. geht es nicht. Politische Kommunikation im Organizing versucht die Kontakte dann in Präsenztreffen zu überführen. Kommunikation ist deshalb kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Organisierung von Menschen. Weil nur so entsteht Verbindlichkeit, die wir brauchen, um Machtfragen im Kleinen und Großen zu stellen.
Mitglieder und Aktivist:innen der LINKEN auf der Aktionskonferenz 2023 in Frankfurt/Main (Foto: Martin Heinlein)
Apropos Kommunikation: die macht ja vielen Menschen auch Angst, wenn es um das Ansprechen von Fremden geht. Gab es eine prägende Erfahrung für Dich, wo Du Deine Angst vor dem Gespräch mit Unbekannten an der Haustür überwunden hast und seitdem nicht mehr anders kannst?
Ich habe zum ersten Mal 2010 Haustürgespräche geführt. In den USA. In einem armen, schwarzen Stadtteil. Als Ossi ohne sonderlich gute Sprachkenntnisse. Diese Aufregung… Seit 2018 koordiniere ich diese Arbeit für DIE LINKE und ein Teil von mir wünscht sich vor jedem Termin auf der Zugfahrt, dass die Aktiven mir absagen. Ich bin immer noch aufgeregt. Aber nach zwei Stunden in einem Plattenbau in Nordsachsen oder im ländlichen Baden-Württemberg bin ich der glücklichste LINKE-Hauptamtliche der Welt. Wenn ich an 57 Türen geklingelt habe, 24 Gespräche hatte, von denen 17 positiv waren und 7 Nachbar*innen in Kontakt bleiben wollen, weiß ich, was ich geschafft habe. Haustürgespräche zeigen mir jedes Mal, wieso DIE LINKE überhaupt da ist. Unsere Analysen sind richtig und es gibt so viele Menschen, die für eine gerechte Welt aktiv werden wollen.
Und wo sollten wir aktuell in Deutschland, Europa und der Welt hinschauen, um inspirierende Beispiele von Parteien und Bewegungen zu finden, die eine furchtlose Politik machen, die an den Haustüren beginnt und zum Erfolg führt?
Ich bewundere weltweit viele Kampagnen, weiß aber auch, dass sie am Ende bisher selten zum Ziel geführt haben. Die Frage ist oft, was wir voneinander für die nächste große oder kleine Kampagne und für die Organisationsentwicklung lernen können. Ich habe mit Verantwortlichen in Chile über die Präsidentschaftswahl und den verfassungsgebenden Prozess gesprochen. Ich habe in den USA die Anfänge der Wahlbündnisse an den Haustüren in Kalifornien live mitbekommen, deren weiterentwickelte Strukturen Donald Trump abgewählt haben und fast Bernie Sanders ins Weiße Haus gebracht haben. Ich habe in Rostock viele Haustürgespräche zur Bürgermeisterwahl geführt und diese Wahl konnten wir Ende 2022 gewinnen. Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. Enteignen hat wirklich vorbildlich gearbeitet und eine Mehrheit für Enteignungen an die Wahlurne gebracht. All das sind furchtlose Projekte, die mit Organizing-Methoden arbeiten, die systematisch Haustürgespräche führen und von denen wir viel gelernt haben.
Handbuch für Organizer:innen: Transformative Organizing – Reading the Practice (Autor:innen: Robert Maruschke, Miriam Pieschke & Rico Rokitte) (Quelle: 350.org)
Zur Bundestagswahl 2021 hat DIE LINKE 20 Mal mehr Haustürgespräche geführt als noch 2017. Diese Steigerung wollen wir 2025 wieder schaffen, die Partei weiterentwickeln und unseren Beitrag für eine starke Linke leisten. In diesem Sinne beginnt Furchtlosigkeit bei Dir, bei Euch, oder bei der Genossin, die nicht will, dass ihr Wahlkreis an die Scheiß AfD geht. Wir müssen überlegen, was es braucht, um zu gewinnen: Ressourcen und Energien bündeln, mit Methoden arbeiten, die nachweislich einen Effekt haben, und unsere Fortschritte überprüfen - das ist die viel zitierte Systematik im Organizing. Und wir müssen jetzt anfangen!
Ganz praktisch aus Deiner Erfahrung gesprochen, was sind die wichtigsten Tipps und Tricks, die Aktivist:innen und Organizer:innen beherzigen sollten, wenn sie es mit dem direkten Gespräch ernst meinen und politische Erfolge herbeiführen wollen?
Das Wichtigste für ein gutes Gespräch ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Nehmt eure Nachbar:innen ernst, in dem Sinne, dass ihr nicht wertet und Euch stattdessen einfühlt. Gleichzeitig politisch klar zu sein und Orientierung zu geben, ist eine Übungssache. Der langfristige Erfolg wird letztlich durch Systematik und Disziplin entschieden.
Als Partei DIE LINKE habt Ihr vor der letzten Bundestagswahl 2021 eine Wahlkampf-App gelauncht. Die von Dir bereits erwähnte Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co. Enteignen hatte für ihre Kiezteams etwas Ähnliches sehr erfolgreich genutzt. Wie ist Deine Einschätzung, wofür uns digitale Werkzeuge nützlich sein können?
Sozialistische und linke Projekte werden keine Chance haben, ohne eine eigene digitale Infrastruktur. Wir haben in zentralen Wahlkreisen 10.000+ Haustüren besucht, das ist viel zu aufwändig, um es auf Zetteln festzuhalten. Kurz gesagt: Wenn Du wirksam sein willst, brauchst Du ein digitales Werkzeug, das Organizing in neuen Größenordnungen ermöglicht. DIE LINKE arbeitet hierfür mit internationalen Partnern an neuen Lösungen, die uns noch alle vom Hocker hauen werden.
Zum Abschluss: Im Osten Deutschlands stehen 2024 und 2025 zahlreiche wichtige Wahlen an, die AfD ist auf einem Rekordhoch und gleichzeitig stehen das Europäische Kulturhauptstadtjahr in Chemnitz mit richtungsweisenden Europawahlen vor der Tür. Wie können progressive Kräfte auf diesem steinigen Terrain die Füße auf den Boden der Realität kriegen? Was tun, wenn einem gleichzeitig der Boden unter den Füßen weggerissen wird?
Tja, ich würde sagen, dass die Zeit gekommen ist, in der sich linke oder progressive Initiativen nicht mehr aus den Wahlkämpfen heraushalten können. Und in der DIE LINKE ein klares Angebot an solche Akteure machen sollte, verbunden mit einer überzeugenden Methodik. Wir sollten gemeinsam für eine begeisternde Vision für unsere Dörfer, Städte und Bundesländer kämpfen und eine verständliche Agenda von Verbesserungen durchsetzen.