Public Narrative ist eine von fünf wesentlichen Leadership-Praktiken im Community Organizing, wie sie an der Harvard-Universität in den USA gelehrt werden. Marshall Ganz entwickelte sie aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Organizer, unter anderem in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Obama-Präsidentschaftskampagne 2008. Leadership bedeutet demnach, unsere Gruppe oder Community zu befähigen, angesichts großer Herausforderungen zielgerichtet zu handeln (statt nur zu reagieren). Durch das Erzählen von Geschichten können wir die emotionalen Ressourcen erschließen, die wir zum Erreichen gemeinsamer politischer Ziele benötigen.
Für Public Narrative brauchen wir kein akademisches Vorwissen oder politische Vorerfahrung: Die Methode vermittelt unser aller Wissen und gelebte Erfahrung. Public Narrative bildet so unterschiedliche, intersektionale Realitäten ab und macht sie nachempfindbar. Jedes Narrativ entsteht in einem interessierten, gleichberechtigten Dialog, der einen emanzipatorischen Prozess ermöglicht, Verbindungen schafft und Beziehungen fördert. So hilft uns das Geschichtenerzählen, gemeinsam ins Handeln zu kommen – getragen von Wut, Solidarität und Hoffnung.
Als der Gelehrte Rabbi Hillel (Jerusalem, 1. Jh) gefragt wurde, "Woher wissen wir, was wir in der Welt tun sollen?", antwortete er mit folgenden drei Fragen:
- Wenn ich nicht für mich selbst bin, wer wird dann für mich sein?
- Wenn ich nur für mich bin, wer bin ich dann?
- Wann, wenn nicht jetzt?
Public Narrative nimmt Rabbi Hillels Fragen als Ausgangspunkt. Denn im Community Organizing und im Leadership in politischen Organisationen und Bewegungen geht es nicht darum, mehr zu wissen, besser zu beherrschen oder stärker zu kontrollieren – sondern darum, aus unseren Geschichten zu lernen.
Wir praktizieren dabei Leadership, indem wir:
- Fragen stellen,
- Verständnis entwickeln,
- mit Ungewissheit umgehen,
- das Unbekannte erkunden,
- durch sinnhafte und zielgerichtete Erfahrung lernen.
Zitat von Marshall Ganz und Grafik von Rosi Greenberg zur Bedeutung von Geschichten
Denn wir alle sind "Fische im Wasser” unserer eigenen Geschichten. Wir haben unser ganzes Leben in ihnen gelebt und brauchen daher Andere, die uns prüfende Fragen stellen, die uns herausfordern, das „Warum“ zu erklären, und Beziehungen zwischen Ereignissen, Erfahrungen und Entscheidungen herzustellen, die wir vielleicht vergessen haben. Dann können wir unsere Ich-, Wir- und Jetzt-Geschichten so erzählen, dass andere daraus lernen können.
Das Zusammenwirken der drei Ebenen von Geschichten (Quelle: LCN Europe, Public Narrative Training Participant Guide 2021. Übernommen von Marshall Ganz, Harvard University. Für diese Publikation übersetzt von Sujin J. Noël)