»Public Narrative als intersektionale Storytelling-Methode« – Eine Übungsanleitung zum Erzählen von politischen Ich-, Wir- und Jetzt-Geschichten

Type
Text
Published
25.07.2023
Language
German
Level
Beginner
Length
8 Minutes
Categories
Community & Union Organizing, Intersectional Alliances, Arts, Media & Internet Activism
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Public Narrative ist eine von fünf wesentlichen Leadership-Praktiken im Community Organizing, wie sie an der Harvard-Universität in den USA gelehrt werden. Marshall Ganz entwickelte sie aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Organizer, unter anderem in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Obama-Präsidentschaftskampagne 2008. Leadership bedeutet demnach, unsere Gruppe oder Community zu befähigen, angesichts großer Herausforderungen zielgerichtet zu handeln (statt nur zu reagieren). Durch das Erzählen von Geschichten können wir die emotionalen Ressourcen erschließen, die wir zum Erreichen gemeinsamer politischer Ziele benötigen. 

Für Public Narrative brauchen wir kein akademisches Vorwissen oder politische Vorerfahrung: Die Methode vermittelt unser aller Wissen und gelebte Erfahrung. Public Narrative bildet so unterschiedliche, intersektionale Realitäten ab und macht sie nachempfindbar. Jedes Narrativ entsteht in einem interessierten, gleichberechtigten Dialog, der einen emanzipatorischen Prozess ermöglicht, Verbindungen schafft und Beziehungen fördert. So hilft uns das Geschichtenerzählen, gemeinsam ins Handeln zu kommen – getragen von Wut, Solidarität und Hoffnung.

Als der Gelehrte Rabbi Hillel (Jerusalem, 1. Jh) gefragt wurde, "Woher wissen wir, was wir in der Welt tun sollen?", antwortete er mit folgenden drei Fragen:

  1. Wenn ich nicht für mich selbst bin, wer wird dann für mich sein?
  2. Wenn ich nur für mich bin, wer bin ich dann?
  3. Wann, wenn nicht jetzt?

Public Narrative nimmt Rabbi Hillels Fragen als Ausgangspunkt. Denn im Community Organizing und im Leadership in politischen Organisationen und Bewegungen geht es nicht darum, mehr zu wissen, besser zu beherrschen oder stärker zu kontrollieren – sondern darum, aus unseren Geschichten zu lernen.

Wir praktizieren dabei Leadership, indem wir: 

  • Fragen stellen, 
  • Verständnis entwickeln, 
  • mit Ungewissheit umgehen, 
  • das Unbekannte erkunden, 
  • durch sinnhafte und zielgerichtete Erfahrung lernen.

Zitat von Marshall Ganz und Grafik von Rosi Greenberg zur Bedeutung von Geschichten

Denn wir alle sind "Fische im Wasser” unserer eigenen Geschichten. Wir haben unser ganzes Leben in ihnen gelebt und brauchen daher Andere, die uns prüfende Fragen stellen, die uns herausfordern, das „Warum“ zu erklären, und Beziehungen zwischen Ereignissen, Erfahrungen und Entscheidungen herzustellen, die wir vielleicht vergessen haben. Dann können wir unsere Ich-, Wir- und Jetzt-Geschichten so erzählen, dass andere daraus lernen können.

Das Zusammenwirken der drei Ebenen von Geschichten (Quelle: LCN Europe, Public Narrative Training Participant Guide 2021. Übernommen von Marshall Ganz, Harvard University. Für diese Publikation übersetzt von Sujin J. Noël)

Englischsprachiger Einführungskurs in “Public Narrative” von Marshall Ganz im Rahmen der Harvard Resistance School

Public Narrative besteht aus drei Geschichten, die wir alle lernen können zu erzählen. 

Die persönliche ICH-Geschichte: Sie lädt andere dazu ein, mit dir in Beziehung zu treten.

Die "Geschichte vom Ich" vermittelt deine Werte, die dich dazu berufen haben, Verantwortung zu übernehmen. Welche Erfahrungen in deinem Leben haben deine Wertvorstellungen geprägt?

Denke über folgende Fragen nach, um wichtige Ich-Geschichten zu ergründen:

  • Was bewegt bzw. befähigt mich dazu, in Führung zu gehen? 
  • Welche Werte bewegen mich dazu, zu handeln? Wie könnten sie andere zu ähnlichem Handeln inspirieren?
  • Welche Geschichten kann ich aus meinem eigenen Leben über Begegnungen oder Ereignisse erzählen, die veranschaulichen, wie ich diese Werte gelernt oder danach gehandelt habe?

Die WIR-Geschichte deiner Gruppe oder Community: Sie lädt andere ein, sich deiner Gemeinschaft anzuschließen.

Die „Geschichte vom Wir" vermittelt die gemeinsamen Werte, die deine Community zusammenhalten. Diese Werte sind vielleicht gefährdet, aber sie sind auch eure gemeinsame Hoffnungsquelle.

Denke über folgende Fragen nach, um wichtige Wir-Geschichten zu ergründen:

  • Was war ein bedeutender Moment, den du mit deiner Community erlebt hast? Dies sollte ein Erlebnis (keine Eigenschaft!) sein, das euch verbindet.
  • Was war in diesem Moment eure Herausforderung? Was hat euch Hoffnung gegeben?
  • Was können wir an der Art und Weise ablesen, wie ihr als Gruppe reagiert habt? Welche gemeinsamen Werte kommen in eurem Handeln zum Ausdruck?

Die JETZT-Geschichte einer akuten Herausforderung: Sie lädt andere ein, jetzt gemeinsam zu handeln.

Die "Geschichte vom Jetzt" veranschaulicht die dringende Herausforderung, angesichts derer du deine Gemeinschaft aufforderst, sich dir anzuschließen und jetzt gemeinsam zu handeln.

Denke über folgende Fragen nach, um wichtige Jetzt-Geschichten zu ergründen:

  • Warum ist es dringend notwendig, jetzt zu handeln? Was wird passieren, wenn wir es nicht tun? Welche Erfahrungen kannst du teilen, die den Zuhörenden veranschaulichen, wie dringlich die Herausforderung ist?
  • Woher weißt du all das? Was ist deine Hoffnungsquelle? Was macht sie plausibel? Welcher Plan macht den Erfolg möglich?
  • Um welche Entscheidung bittest du jede einzelne Person, die sich dir anschließt, genau jetzt? Warum wird sich diese Entscheidung lohnen? Wie könnte sie das gewünschte Ergebnis erreichen?

Beispiel für den Einsatz von Public Narrative in einer politischen Rede von Naomi Wadler beim “March for Our Lives” in Washington

March for Our Lives

Der March For Our Lives (Marsch für unsere Leben) war ein Protest vor dem Kapitol in Washington, der aus lokalen Initiativen von Jugendlichen, Überlebenden und Angehörigen von durch Amokläufe Getöteten in den USA zur weltweiten Massenbewegung geworden ist, die sich für wirksame Maßnahmen zur Kontrolle von Schusswaffen in privaten Händen einsetzt. Die Bewegung widersetzt sich damit auch dem Einfluss der Waffenlobbys auf politische Entscheidungen. Ausgelöst wurden die Proteste durch das Schulmassaker von Parkland in Florida am 14. Februar 2018, bei dem im Zuge eines Amoklaufs von einem ehemaligen Schüler innerhalb von ca. sechs Minuten 17 Menschen erschossen wurden.

Der rechte Terroranschlag in Halle

Der rechte Terroranschlag in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 war der Versuch eines Massenmordes an Juden an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der Rechtsextremist Stephan Balliet versuchte mit Waffengewalt in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten. Nachdem ihm dies misslungen war, erschoss er vor dem Gebäude die Passantin Jana Lange und kurz darauf im Imbiss „Kiez-Döner“ den Gast Kevin Schwarze. Den Tatverlauf übertrug er per Helmkamera als Livestream. Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte den geständigen B. unter anderem wegen zweier Morde und 68 Mordversuchen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Beispiel für ein Public Narrative-basiertes Videointerview einer Zeugin des rechten Terroranschlags in Halle (Quelle: leftvision)

About the contributor

Sujin Julia Noël
JEDI Coach & Consultant & BIPoC Empowerment

Sujin Julia Noël ist freiberufliche Coach und Beraterin und Fellow der Alfred Landecker Foundation mit Humanity in Action. Sie integriert Justice, Equity, Diversity und Inclusion (JEDI) in Organisationen und unterstützt BIPoC-Aktivist:innen in ihrer Leadership-Entwicklung. Sie ist Trainerin für die People First Impact Method (P-FIM) und für Public Narrative und gibt Workshops für Radikale Töchter. Ihre Stämme sind das Leading Change Network (LCN) und BIWOC*Rising.