Antifa-Plakat auf einer Demonstration in Chemnitz (Foto: Markus Spiske, Unsplash.com)
Bei meinen Besuchen in Chemnitz und den Begegnungen mit verschiedenen Menschen hatte ich häufig das Gefühl, dass Chemnitz, insbesondere das Weltecho, ein Ort ist, an dem Menschen zusammenkommen, die an anderen Orten oder in anderen Situationen möglicherweise nicht politisch aktiv wären.
Das würden in anderen Städten vielleicht einfach andere Leute übernehmen, aber hier geht es nicht anders. Wir können nicht auf irgendjemanden verzichten, es braucht hier eigentlich jede einzelne Person. Die Notwendigkeit kommt daher, wie rechte Strukturen in Chemnitz gewachsen sind. In den Aufsichtsräten von städtischen Tochtergesellschaften sitzen hier inzwischen führende Kader rechter Parteien und der Identitären Bewegung. Am Wochenende hat eine Gruppe Jugendlicher mitten in der Innenstadt den Hitlergruß gezeigt.
Und als ich letztens auf einer Veranstaltung mit einer der Organisator:innen gesprochen habe, die kein Problem darin sieht, bei den Montagsdemonstrationen mitzulaufen, ist mir mit Erschrecken nochmal klar geworden, wie normalisiert das alles hier für viele leider ist. Da fehlt nicht nur das Problembewusstsein, sondern auch das grundlegendste Verständnis dafür, warum wir zum Beispiel sagen: “Wir sind antifaschistisch!” Völlig absurd wird es dann, wenn man dieser Dame – die auch noch Lehrerin ist – Drohnachrichten von Identitären an mich zeigt oder ihr erzählt, wie ich von einem Auto verfolgt und bedrängt wurde und Angst hatte, überfahren zu werden, und dann nur gesagt bekommt: “Ach, Mensch, da muss ich einmal mit denen reden, ja, so etwas geht doch nicht!” Da denke ich nur: “Was zur Hölle? In welcher Realität lebt sie?”
Und daneben gibt es dann diese große “Mitte”, die schweigt und sich heraushält, die sich leider häufig selbst am nächsten ist. So funktioniert aber keine demokratische Gesellschaft. Diese Stadt braucht mehr denn je eine Debatte darüber, wer wir hier sein wollen, was unsere Werte sind, wie wir in einer demokratischen Gesellschaft leben möchten und warum es wichtig ist, solidarisch gegen Diskriminierung zu kämpfen und Barrieren abzubauen, weil wir Menschen nicht nur in ihrem Leben einschränken sondern auch akut mit der realen Gefahr von rechter Gewalt alleine lassen.
Ich frage mich dann ehrlich gesagt immer, wie Menschen so ruhigen Gewissens “unpolitisch” leben können. Das geht für mich eigentlich nicht. Wenn Du sagst, Du bist für eine demokratische Gesellschaft, kannst Du nicht anders, als politisch aufzutreten und sich dagegen zu stellen.
Und da bin ich um jede Person froh, die hier den Mut findet, sich zu engagieren.
Ich kann mir vorstellen, dass 2018 da für einige ein plötzlicher und unangenehmer Aufwachmoment war. Aber hier existiert der Kampf gegen Rechts ja nicht erst seit 2018 – wie es manchmal erscheinen könnte – was habt ihr eigentlich vor 2018 gemacht?
Als ich noch jünger war, haben wir vor allem viele Gegendemonstrationen angemeldet. Da waren die Verhältnisse auch nochmal ganz anders. Am 5. März, dem Tag, an dem Chemnitz von den Alliierten bombardiert wurde, konnten früher immer Faschos ungehindert durch die Straßen ziehen. Mittlerweile sind wir zum Glück an dem Punkt, dass wir sagen können: ”Das ist der Chemnitzer Friedenstag, da haben Rechte keinen Platz!”
Und schon in der Vergangenheit haben wir aber eigentlich immer die Position vertreten, dass wir endlich auch eigene Zeichen setzen müssen und nicht nur auf die Aktionen von Rechten reagieren dürfen. Ich glaube aber, das wurde bis 2018 immer so ein bisschen belächelt oder nicht ganz verstanden. Dann ist 2018 passiert und wir haben gesagt, dass wir die Kontrolle über das Narrativ in dieser Stadt zurückgewinnen müssen. Wir können uns doch kein Narrativ von Rechten aufdiktieren lassen, und dann immer nur sagen: “Das, was die sagen, finden wir aber doof.”
Wir müssen auch sagen “So muss es laufen, so stellen wir uns eine Stadt und ein Zusammenleben vor …” Wenn dann rechte Gruppierungen sagen, “Das geht aber nicht”, dann sind wir in einer ganz anderen, proaktiven und offensiven Position. Und 2018 kam dann der Punkt, an dem niemand mehr sagen konnte: "Nein, Ihr habt nicht recht!”
Am 24.02.2023 haben wir im Weltecho als Teil unserer Workshopreihe “Hoch die intersektionale Solidarität” im Rahmen einer Strategiewerkstatt mit Schlüsselpersonen der Chemnitzer Zivilgesellschaft eine kollektive Retrospektive der Ereignisse und Erfahrungen aus den Jahren vor und nach 2018 erstellt. Es war sehr berührend zu erleben, mit welcher persönlichen Hingabe hier Menschen gemeinsam für eine menschlichere Stadt kämpfen.
Und doch wurde auch deutlich, was Julia selbst sagt, dass die nächsten Schritte der zivilgesellschaftliche Entwicklung hier wie andernorts notgedrungen über die Auseinandersetzung mit den Fragen führen, wie man selbst in eine selbstbewusste Position kommen, aus den Erfolgen und dem Scheitern der Vergangenheit lernen und in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Communities breitenwirksame Strukturen und Strategien entwickeln kann. Denn erfolgreiche Narrative und Aktionen, die viele Menschen überzeugen, beteiligen und gewinnen, von denen man heute noch nicht glaubt, sie könnten politisch aktiv auf unserer Seite stehen, müssen immer gegen die politische Hoffnungs-, Mut- und Machtlosigkeit anarbeiten, die an Orten wie Chemnitz stark spürbar sind.
Solange Menschen das Gefühl haben, dass sie nicht die demokratische Kontrolle über ihr Leben und das ihrer Lieben, ihre Arbeit, ihre Nachbarschaft und ihre Stadt haben und diese Selbstbestimmung sogar von Rechten mit Einschüchterung, Gewalt und Terror permanent untergraben wird, bleiben gelebte Solidarität und der Mut, politisch zu handeln, kaum vorstellbar. Machen wir nicht den Fehler zu denken, dass Menschen in Chemitz oder an anderen Orten per se besonders schlecht, dumm oder faul wären. Es ist vielmehr die Angst vor dem totalen Kontrollverlust über das Schicksal unseres Lebens, das viele in die Flucht aus dem politischen Raum und paradoxerweise in die Arme von Rechten treibt.
Dokumentation der Strategiewerkstatt “Geschlossene Gesellschaft” zur Frage “Wie wir Narrative, Strukturen, Strategien und Aktionen für die kommenden Herausforderungen entwickeln” (Graphic Recording: Stephanie Brittnacher)
Das sind ja so Kassandrarufe, die Du und Deine Mitstreiter:innen unermüdlich in die Stadt hineinruft. Man warnt vor der Gefahr, wird nicht gehört oder es wird einem kein Glauben geschenkt, und dann passiert es, das Unheil, das man prophezeit hat. Wie hast Du Dich gefühlt, als Deine abstrakten Ängste plötzlich ganz konkrete Wirklichkeit wurden?
Das erste Gefühl, das hochkam, war an dem Tag wirklich ganz große Erschütterung … Sorge und ein ganz seltsames Verantwortungsgefühl. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass wir nicht vehement genug mit unseren Warnungen waren oder uns nicht klar genug ausgedrückt hatten. Wir hatten in den nächsten Tagen das Gefühl, dass es uns unmöglich war, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Ich glaube, das war eigentlich viel schlimmer. Das hat letztlich auch relativ viele Aktive traumatisiert, diese Ohnmacht, dass unser Rufen nichts gebracht hat, um diese Ereignisse zu verhindern.
Jedes Mal in diesen Momenten, wenn Stadt, Verwaltung und Behörden versagen, frage ich mich dann natürlich auch, warum ich das überhaupt mache, ob sich das alles lohnt. Aber ich habe mittlerweile auch eingesehen, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind. Ich kann nicht mehr tun als immer wieder sprechen und sprechen und sprechen … Aber ich weiß zum Glück auch, dass ich nicht alleine bin. Vor allem seit 2018 wissen wir, dass wir uns als aktive Zivilgesellschaft wenigstens aufeinander verlassen können. Dafür war, glaube ich, auch das #WirSindMehr-Konzert wichtig, um zu zeigen, dass wir füreinander da sind und wir das gemeinsam schaffen können. Uns überfordert alle diese Situation, aber wenn wir uns gemeinsam organisieren, dann sind wir auch laut, können Gehör finden und auch unsere Forderungen durchsetzen.