»Es braucht hier eigentlich jede einzelne Person« – Interview mit Julia Voigt (Weltecho & Hand in Hand e.V.)

Type
Text
Published
31.10.2023
Language
German
Level
Beginner
Length
22 Minutes
Categories
Contemporary Struggles, Community & Union Organizing, Arts, Media & Internet Activism
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Im Dezember 2021 haben wir als School of Transnational Organizing von European Alternatives erstmals Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, Aktivist:innen und migrantischen Communities in Chemnitz gesucht. Nach der rassistischen Hetzjagd auf Migrant:innen im August 2018 und der darauf folgenden schnellen und lauten Antwort im Rahmen des Solidaritätskonzerts #WirSindMehr gegen Rechts war es in der deutschen Presse- und Medienlandschaft allmählich ruhiger um Chemnitz geworden.

Wir wussten jedoch aus unterschiedlichen Quellen um die Schwierigkeiten, gegen die die progressive Zivilgesellschaft in Chemnitz weiterhin zu kämpfen hat, und fragten uns, was nach 2018 passiert ist und was gebraucht wird, um vor Ort den Aufbau antifaschistischer, intersektionaler und progressiver Bewegungen, Organisationen und Communities zu unterstützen. Was uns dabei zu Beginn natürlich beschäftigte, war – wie immer in unserer Arbeit – die Frage, ob die Menschen vor Ort unsere Unterstützung überhaupt gebrauchen können.

Die erste Person, mit der wir sprechen konnten, war Julia Voigt, eine der Schlüsselpersonen, die in Chemnitz tagtäglich mit unbändiger Leidenschaft versucht, die politischen Brände zu löschen, die von Faschist:innen und ihren Sympathisant:innen immer wieder gezündet werden. Sie war es, die uns mit ihrem Team und ihrem Hund nicht nur herzlich willkommen geheißen und die Türen zum Weltecho geöffnet hat, sondern auch das Vertrauen und die Beziehungen zu den vielen Menschen geschaffen hat, auf die wir seitdem in Chemnitz getroffen sind.

Vor dem Interview mit Julia erinnere ich mich an unsere persönlichen Gespräche der letzten Monate bei unseren Vor-Ort-Besuchen in Chemnitz, aber auch an den 3. September 2018, als ich im Livestream das #WirSindMehr-Solidaritätskonzert verfolgt habe: Wer ist dieses Wir? Wie kommt es eigentlich, dass wir auf dieser Seite sind und die anderen dort auf der anderen Seite stehen und sich vor der Gewalt und dem Terror von Rechten nicht fürchten? Und: Sind wir wirklich mehr?

 

Georg Blokus: Hallo Julia, wer bist Du und was ist Chemnitz für Dich? 

Julia Voigt: Ich heiße Julia Voigt, bin gebürtige Chemnitzerin und hier schon viele Jahre politisch aktiv. Außer für ein Jahr in Finnland während meines Studiums bin ich eigentlich immer hier gewesen. Und deshalb empfinde ich natürlich ein besonderes Verantwortungsgefühl für diese Stadt. Denn der Grund, warum ich hier geblieben bin, ist nicht, weil hier alle reserviert und mürrisch wären, wie es manchmal auf den ersten Blick wirken kann. Für mich sind die meisten Menschen hier nicht nur offen und hilfsbereit, sondern aufgrund unserer Geschichte und der früheren Industriekultur erlebe ich Chemnitz als Stadt von Anpacker:innen.

Ich glaube, dass wir uns in Zukunft aber nicht nur beim Renovieren unserer Häuser und der Reparatur unserer Gartenzäune helfen sollten, sondern auch beim Bau einer demokratischen, solidarischen und kreativen Stadtgesellschaft. Und ich bin davon überzeugt, dass wir das lernen können, wenn wir miteinander ins persönliche Gespräch kommen – nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen.

 

Was machst Du dafür und wie bist Du dazu gekommen?

Seit einigen Jahren arbeite ich als Kulturmanagerin und bin für die Geschäftsführung des Weltecho verantwortlich. Das Weltecho ist ein Kulturzentrum mitten in der Chemnitzer Innenstadt. Uns ist es auf der einen Seite wichtig, neue Kultur und Kulturakteur:innen zu präsentieren und zu fördern, auf der anderen Seite aber auch ein breites – oder besser – diverses politisches Angebot zu schaffen – und das in möglichst diskriminierungsarmen Räumen, die wir auch kostenfrei für lokale Gruppen zur Verfügung stellen. Damit versuchen wir unseren Beitrag zu den dringend notwendigen Demokratisierungsprozessen in Chemnitz zu leisten und fragen uns dabei immer, wie Kunst und Kultur eine Gesellschaft zum Besseren verändern können.

Ursprünglich habe ich Sozialarbeit studiert und während meines Studiums in der Jugendgerichtshilfe gearbeitet. Ich brauchte nachts aber noch einen Nebenjob zum Überleben und dann habe ich 2015 im Weltecho an der Bar angefangen, weil ich mich schon immer in der Kultur zuhause gefühlt habe. Schnell hatte ich dann mein Herzensprojekt gefunden, weil ganz viele Ressourcen und entsprechend auch Macht, die wir in dieser Stadt eigentlich haben könnten, bis dahin gar nicht genutzt wurden – vielleicht weil man sich dessen nicht bewusst war. Ich habe das dann zu meiner Aufgabe gemacht und das ist glücklicherweise auf sehr viele offene Ohren gestoßen.

 

Du sagtest, dass Du eigentlich Sozialarbeiterin bist und vor diesem Hintergrund die Strategie des Weltecho politisiert und so ein politisches Zuhause für viele engagierte Zivilgesellschafter:innen, progressive Kulturakteur:innen und Aktivist:innen geschaffen hast. Warum bist Du eigentlich jetzt Kulturarbeiterin geblieben und nicht mehr in die Sozialarbeit zurückgekehrt?

Kulturarbeit ist am Ende irgendwie auch Sozialarbeit. Ich habe hier einfach nur einen anderen Zugang zu Menschen, ihren Problemen und Interessen … über die Kultur eben. Mein persönlicher Schwerpunkt ist deshalb, sehr niedrigschwellige politische Bildungsarbeit zu leisten. Mittlerweile bin ich schon ein bisschen aus dem Alter heraus, dass ich am Wochenende schwarz vermummt Straßen blockiere. (lacht)

Meine Frage ist seitdem eigentlich immer: Was gibt es eigentlich noch für Strategien, die uns helfen, neue Menschen zu erreichen? Der Raum, den wir hier tagtäglich schaffen, ist vor allem ein sehr attraktiver Ort für junge Menschen, aber auch für ältere, weil wir nicht nur schöne Konzerte und gute Partys veranstalten, sondern auch auf eine nette und sichere Atmosphäre achten.

Wir wollen hier aber immer klarmachen, dass das alles zwar schön und gut ist, aber ganz schnell auch nicht mehr existieren könnte, wenn wir nicht alle gemeinsam zusammenstehen, “aware” sind und uns politisch engagieren. Das bedeutet nicht für jede:n das gleiche: Nicht jede:r möchte in eine Partei eintreten oder bei einer Demonstration in der ersten Reihe stehen. Dazu kommt, dass wir eine sehr ostdeutsche Stadt sind, wo manche Menschen auch einfach Angst vor Parteien haben und Sorge davor haben, von der Politik manipuliert zu werden oder auf der Straße Gesicht zu zeigen. Der Grundkonsens hier muss aber sein, dass wir zusammen für unsere Grundrechte und gegen Diskriminierung einstehen. Manchen mag das wirklich nicht bewusst sein, aber ohne diese klare gemeinsame Haltung kann es sein, dass es Orte wie unseren sehr schnell einfach nicht mehr gibt …

Antifa-Plakat auf einer Demonstration in Chemnitz (Foto: Markus Spiske, Unsplash.com)

Bei meinen Besuchen in Chemnitz und den Begegnungen mit verschiedenen Menschen hatte ich häufig das Gefühl, dass Chemnitz, insbesondere das Weltecho, ein Ort ist, an dem Menschen zusammenkommen, die an anderen Orten oder in anderen Situationen möglicherweise nicht politisch aktiv wären.

Das würden in anderen Städten vielleicht einfach andere Leute übernehmen, aber hier geht es nicht anders. Wir können nicht auf irgendjemanden verzichten, es braucht hier eigentlich jede einzelne Person. Die Notwendigkeit kommt daher, wie rechte Strukturen in Chemnitz gewachsen sind. In den Aufsichtsräten von städtischen Tochtergesellschaften sitzen hier inzwischen führende Kader rechter Parteien und der Identitären Bewegung. Am Wochenende hat eine Gruppe Jugendlicher mitten in der Innenstadt den Hitlergruß gezeigt.

Und als ich letztens auf einer Veranstaltung mit einer der Organisator:innen gesprochen habe, die kein Problem darin sieht, bei den Montagsdemonstrationen mitzulaufen, ist mir mit Erschrecken nochmal klar geworden, wie normalisiert das alles hier für viele leider ist. Da fehlt nicht nur das Problembewusstsein, sondern auch das grundlegendste Verständnis dafür, warum wir zum Beispiel sagen: “Wir sind antifaschistisch!” Völlig absurd wird es dann, wenn man dieser Dame – die auch noch Lehrerin ist – Drohnachrichten von Identitären an mich zeigt oder ihr erzählt, wie ich von einem Auto verfolgt und bedrängt wurde und Angst hatte, überfahren zu werden, und dann nur gesagt bekommt: “Ach, Mensch, da muss ich einmal mit denen reden, ja, so etwas geht doch nicht!” Da denke ich nur: “Was zur Hölle? In welcher Realität lebt sie?”

Und daneben gibt es dann diese große “Mitte”, die schweigt und sich heraushält, die sich leider häufig selbst am nächsten ist. So funktioniert aber keine demokratische Gesellschaft. Diese Stadt braucht mehr denn je eine Debatte darüber, wer wir hier sein wollen, was unsere Werte sind, wie wir in einer demokratischen Gesellschaft leben möchten und warum es wichtig ist, solidarisch gegen Diskriminierung zu kämpfen und Barrieren abzubauen, weil wir Menschen nicht nur in ihrem Leben einschränken sondern auch akut mit der realen Gefahr von rechter Gewalt alleine lassen.

Ich frage mich dann ehrlich gesagt immer, wie Menschen so ruhigen Gewissens “unpolitisch” leben können. Das geht für mich eigentlich nicht. Wenn Du sagst, Du bist für eine demokratische Gesellschaft, kannst Du nicht anders, als politisch aufzutreten und sich dagegen zu stellen.

Und da bin ich um jede Person froh, die hier den Mut findet, sich zu engagieren.

 

Ich kann mir vorstellen, dass 2018 da für einige ein plötzlicher und unangenehmer Aufwachmoment war. Aber hier existiert der Kampf gegen Rechts ja nicht erst seit 2018 – wie es manchmal erscheinen könnte – was habt ihr eigentlich vor 2018 gemacht?

Als ich noch jünger war, haben wir vor allem viele Gegendemonstrationen angemeldet. Da waren die Verhältnisse auch nochmal ganz anders. Am 5. März, dem Tag, an dem Chemnitz von den Alliierten bombardiert wurde, konnten früher immer Faschos ungehindert durch die Straßen ziehen. Mittlerweile sind wir zum Glück an dem Punkt, dass wir sagen können: ”Das ist der Chemnitzer Friedenstag, da haben Rechte keinen Platz!”

Und schon in der Vergangenheit haben wir aber eigentlich immer die Position vertreten, dass wir endlich auch eigene Zeichen setzen müssen und nicht nur auf die Aktionen von Rechten reagieren dürfen. Ich glaube aber, das wurde bis 2018 immer so ein bisschen belächelt oder nicht ganz verstanden. Dann ist 2018 passiert und wir haben gesagt, dass wir die Kontrolle über das Narrativ in dieser Stadt zurückgewinnen müssen. Wir können uns doch kein Narrativ von Rechten aufdiktieren lassen, und dann immer nur sagen: “Das, was die sagen, finden wir aber doof.”

Wir müssen auch sagen “So muss es laufen, so stellen wir uns eine Stadt und ein Zusammenleben vor …” Wenn dann rechte Gruppierungen sagen, “Das geht aber nicht”, dann sind wir in einer ganz anderen, proaktiven und offensiven Position. Und 2018 kam dann der Punkt, an dem niemand mehr sagen konnte: "Nein, Ihr habt nicht recht!”

Am 24.02.2023 haben wir im Weltecho als Teil unserer Workshopreihe “Hoch die intersektionale Solidarität” im Rahmen einer Strategiewerkstatt mit Schlüsselpersonen der Chemnitzer Zivilgesellschaft eine kollektive Retrospektive der Ereignisse und Erfahrungen aus den Jahren vor und nach 2018 erstellt. Es war sehr berührend zu erleben, mit welcher persönlichen Hingabe hier Menschen gemeinsam für eine menschlichere Stadt kämpfen.

Und doch wurde auch deutlich, was Julia selbst sagt, dass die nächsten Schritte der zivilgesellschaftliche Entwicklung hier wie andernorts notgedrungen über die Auseinandersetzung mit den Fragen führen, wie man selbst in eine selbstbewusste Position kommen, aus den Erfolgen und dem Scheitern der Vergangenheit lernen und in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Communities breitenwirksame Strukturen und Strategien entwickeln kann. Denn erfolgreiche Narrative und Aktionen, die viele Menschen überzeugen, beteiligen und gewinnen, von denen man heute noch nicht glaubt, sie könnten politisch aktiv auf unserer Seite stehen, müssen immer gegen die politische Hoffnungs-, Mut- und Machtlosigkeit anarbeiten, die an Orten wie Chemnitz stark spürbar sind.

Solange Menschen das Gefühl haben, dass sie nicht die demokratische Kontrolle über ihr Leben und das ihrer Lieben, ihre Arbeit, ihre Nachbarschaft und ihre Stadt haben und diese Selbstbestimmung sogar von Rechten mit Einschüchterung, Gewalt und Terror permanent untergraben wird, bleiben gelebte Solidarität und der Mut, politisch zu handeln, kaum vorstellbar. Machen wir nicht den Fehler zu denken, dass Menschen in Chemitz oder an anderen Orten per se besonders schlecht, dumm oder faul wären. Es ist vielmehr die Angst vor dem totalen Kontrollverlust über das Schicksal unseres Lebens, das viele in die Flucht aus dem politischen Raum und paradoxerweise in die Arme von Rechten treibt.

Dokumentation der Strategiewerkstatt “Geschlossene Gesellschaft” zur Frage “Wie wir Narrative, Strukturen, Strategien und Aktionen für die kommenden Herausforderungen entwickeln” (Graphic Recording: Stephanie Brittnacher)

 

Das sind ja so Kassandrarufe, die Du und Deine Mitstreiter:innen unermüdlich in die Stadt hineinruft. Man warnt vor der Gefahr, wird nicht gehört oder es wird einem kein Glauben geschenkt, und dann passiert es, das Unheil, das man prophezeit hat. Wie hast Du Dich gefühlt, als Deine abstrakten Ängste plötzlich ganz konkrete Wirklichkeit wurden?

Das erste Gefühl, das hochkam, war an dem Tag wirklich ganz große Erschütterung … Sorge und ein ganz seltsames Verantwortungsgefühl. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass wir nicht vehement genug mit unseren Warnungen waren oder uns nicht klar genug ausgedrückt hatten. Wir hatten in den nächsten Tagen das Gefühl, dass es uns unmöglich war, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Ich glaube, das war eigentlich viel schlimmer. Das hat letztlich auch relativ viele Aktive traumatisiert, diese Ohnmacht, dass unser Rufen nichts gebracht hat, um diese Ereignisse zu verhindern.

Jedes Mal in diesen Momenten, wenn Stadt, Verwaltung und Behörden versagen, frage ich mich dann natürlich auch, warum ich das überhaupt mache, ob sich das alles lohnt. Aber ich habe mittlerweile auch eingesehen, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind. Ich kann nicht mehr tun als immer wieder sprechen und sprechen und sprechen … Aber ich weiß zum Glück auch, dass ich nicht alleine bin. Vor allem seit 2018 wissen wir, dass wir uns als aktive Zivilgesellschaft wenigstens aufeinander verlassen können. Dafür war, glaube ich, auch das #WirSindMehr-Konzert wichtig, um zu zeigen, dass wir füreinander da sind und wir das gemeinsam schaffen können. Uns überfordert alle diese Situation, aber wenn wir uns gemeinsam organisieren, dann sind wir auch laut, können Gehör finden und auch unsere Forderungen durchsetzen.

 

Wer ist dieses “Wir”? Dieses Wir, das nicht mehr ohnmächtig sein, sondern – selbst als es unter geltenden Sicherheitsbestimmungen quasi unmöglich erschien – dann so einen großen Solidaritätsmoment kreiert hat, um sich zu verbünden, die Angst zu durchbrechen und gemeinsam gegen dieses Trauma anzukämpfen ...

Eigentlich sollen sich alle dazu zählen, die die Haltung vertreten, dass einfach kein Millimeter Platz für Rechte in dieser Stadt gelassen werden darf, dass wir gegen Diskriminierung und rechte Gewalt zusammenstehen und unsere Stadt verteidigen. Das klingt immer etwas krass, aber so ist die Realität.

Und so kommen dann diverseste Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten, Ressourcen und Interessen zusammen. Natürlich die Menschen, die irgendwie Kontakte haben, um so ein Konzert mit den großen Bands zu gestalten, die Erfahrungen in der Produktion haben, um das professionell und sicher zu organisieren, die bereit sind, auch präsent auf der Straße zu sein. Auch die Leute, die dann alle ihre Bars und Clubs öffnen, die Menschen bei sich aufnehmen und Schlafplätze anbieten.

Ich finde es immer schwierig, wenn Menschen dann kommen und sagen: “Was Ihr tut, ist so toll, wir könnten das niemals!” Nein, wir brauchen aber alle mit ihren Erfahrungen und Ressourcen, auch diejenigen, die sich das vielleicht erstmal kaum vorstellen können oder noch nie gemacht haben. Menschen von hier in Chemnitz und von anderswo, die hierher kommen und mitmachen möchten. Nur so können wir gemeinsam lernen, die Verantwortung auf viele Schultern verteilen und zusammen vorangehen.

 

Wen würdest Du Dir denn noch in diesem Wir wünschen? Bei welchen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen in Chemnitz hast Du das Gefühl, dass Ihr es noch nicht schafft, zu ihnen durchzudringen?

Ein großes Problem ist, dass es in Chemnitz einfach sehr viele privilegierte Mittfünfziger gibt. So gibt es also diese sogenannte Boomer-Generation mit Einfamilienhaus oder Eigentumswohnung, die es sich scheinbar erlauben konnte, nicht politisch zu sein. Die setzen hier die Maßstäbe und tendieren häufig dazu, Probleme unter den Teppich kehren zu wollen. Und als Gegengewicht dazu fehlt uns vor allem die Präsenz der Mittdreißiger bis Mittvierziger, weil es für diese Generation damals einfach keine Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze in Chemnitz gab, und so einfach sehr viele von ihnen die Stadt verlassen haben.

Wir haben deshalb eine neue junge Generation, die sehr früh Verantwortung übernehmen und dafür kämpfen muss, dass für alle, die jetzt bleiben, auch wirklich eine Perspektive existiert. Und das ist das, was wir hier brauchen, eine Zukunftsvision, die Sicherheit schafft und die Freiheit für wirklichen Fortschritt bringt. Wir brauchen uns nach 2018 nicht zu belügen und so zu tun, als würden die Probleme nicht existieren, nur weil irgendjemand sagt, es gäbe ja keine Probleme von Rechts. Und dagegen muss man hier ständig ankämpfen, gegen die Stimmen, die sagen, alles sei in Ordnung oder die Probleme seien gelöst.

Und dann sind nicht selten sogar wir diejenigen, die zum Problem gemacht werden: “Du bist doch gebürtige Chemnitzerin, mach doch unser Chemnitz nicht immer so schlecht!” Und wenn man dann von ganz oben immer nur schlechte Presse verhindern will oder sich darüber beschwert, wenn wir schlecht dastehen, aber die Probleme nicht wirklich lösen will, dann können es nur wir als Zivilgesellschaft sein, die sich um diese Probleme von unten kümmern und sie solange immer wieder klar benennen, bis sich etwas ändert. 

Wir hätten auch den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2025 nicht gewonnen, wenn wir gesagt hätten: “Hier ist alles super!” Wir haben gesagt: “Nein, hier ist alles ganz schön beschissen, aber wir sind uns dessen bewusst und wollen gemeinsam eine andere Stadt bauen!”

 

Aber was ist das Fundament, auf dem wir bauen? Ich habe zurzeit manchmal das Gefühl, dass sich auch unter Menschen, die sich zu uns zählen, zunehmend eine gewisse Verunsicherung breit macht. Das liegt sicher nicht nur an politischen Stimmungsbarometern oder den aktuellsten Wahlumfragen, die ja für Ostdeutschland, Sachsen und Chemnitz nicht viel Gutes versprechen. Da beschleicht mich manchmal das ungute Gefühl, dass unser Fundament an manchen Stellen bröckeln könnte. Dass die Demokratie doch nicht so wehrhaft sein könnte, wie sie von manchen gerne beschworen wird … Dass einige einfach den Mut verlieren … Was denkst Du, sind wir wirklich mehr oder werden wir vielleicht sogar weniger?

Ich glaube, dass es durch diese zahlreichen, sich überschneidenden und nicht enden wollenden Krisen der letzten Jahre auf jeden Fall einen großen Abbruch gab. Und da stelle ich mir auch die Frage, was von dem, was wir seit 2018 aufgebaut haben, geblieben ist und wie das für das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2025 genutzt werden kann. Und da muss man leider auch klar sagen, dass einige weg- oder zusammengebrochen sind, und vieles verloren ist.

Und ich will mich da gar nicht herausnehmen, dass man manchmal die Kraft oder den Mut verlieren kann. Gefährlich ist zurzeit aber dieser sanfte Turn. Immer mehr Rechtes wird sagbar und gleichzeitig verlieren einige die Standhaftigkeit und schweigen entweder, sind plötzlich nicht mehr von Menschen in Thor Steinar-Shirts irritiert oder fangen an, völlig absurde Dinge zu tun, die wir nie tun wollten. So viele persönliche Gespräche kann man als einzelne Person gar nicht führen, um das zu verhindern. Das können wir nur gemeinsam leisten.

Aber jetzt sagen Menschen aus meinem Umfeld, die politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen machen, plötzlich: “Wir laden jetzt die AfD doch zu Wahlveranstaltungen ein, weil wir mit allen sprechen wollen.” Don’t! Why? Die denken leider tatsächlich, die könnten mit diesen Leuten auf Augenhöhe diskutieren und den Jugendlichen zeigen, dass das, was die AfD sagt, nicht sagbar ist. Da kann ich dann immer nur sagen: “Das schafft Ihr nicht!” Das ist doch aber nichts, was wir jetzt neu lernen müssten. Ich dachte, wir hätten da eigentlich schon einen Konsens erreicht und klare Kante zeigen wollen.

Ich muss hier an das berühmt gewordene Interview von Günter Gaus mit der jüdischen deutsch-amerikanischen politischen Theoretikerin Hannah Arendt aus dem Jahre 1964 denken. Wie Hannah Arendt sagt, dass der persönliche Schock bei der Machtergreifung der Nazis 1933 ja nicht darin bestanden hätte, “was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten”.

Und dieses Gefühl, dass so ein schleichender Prozess auch heute in Gang sein könnte, beschleicht mich in letzter Zeit selbst häufiger, dass ich eine gewisse Resignation, Verleugnung oder sogar Anpassung erlebe. Manche bagatellisieren dann die politische Unruhe, andere gehen in den Rückzug, und einige beginnen, sich die neue Realität schönzureden. “Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen herum bildete”, sagt Hannah Arendt. Alte, sicher geglaubte persönliche Bindungen geraten ins Wanken und neue politische Loyalitäten treten hervor und gewinnen an Bedeutung. Weil Menschen besorgt sind um ihre eigenen Existenzen, ihre Lieben und ihre Zukunft und sich so immer schwerer damit tun, sich klar und deutlich gegen die Menschen- und Lebensfeindlichkeit zu positionieren. Manchmal erscheint mir das wie eine Ermüdungserscheinung, dass man einfach endlich die politischen Ängste ablegen und endlich politische Ruhe genießen möchte. Und plötzlich findet man sich in einer selbsterfüllenden Prophezeiung wieder …

Interview von Günter Gaus mit Hannah Arendt (1964)

 

Ich frage mich aber, wie in unserer Zeit ein progressiver Antifaschismus aussehen müsste, der einerseits nicht nur reaktiv und defensiv, sondern vielmehr proaktiv und offensiv wäre. Und andererseits intersektional und vielleicht sogar transnational, wo die Kämpfe von Frauen, Geflüchteten und Migrant:innen, Queers, Muslim:innen und Juden, Arbeiter:innen, armen und arbeitslosen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Regionen miteinander verbunden sind und sich gegenseitig in Solidarität unterstützen.

Schließlich sollten wir doch voneinander lernen. Was Menschen in Osteuropa schon vor Jahren an Erfahrungen gesammelt haben, kann jetzt in Sachsen von unschätzbarem Wert sein. Und was in einigen Jahren in Chemnitz an Erfolgen gefeiert wird, wird ja umgekehrt auch wieder politischen Einfluss auf andere Orte, Menschen und ihre Kämpfe haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ohne die Anerkennung dieser gegenseitigen Abhängigkeit und Verwundbarkeit die regressiven politischen Erscheinungen in der heutigen Welt überwinden können. Und wenn wir wollen, könnten wir vielleicht sogar sagen, dass Rechte diese intersektionale und transnationale Strategie – in pervertierter Form – viel besser beherrschen, als wir es tun.

 

Du hast mir vor einiger Zeit erzählt, wie schwierig es in der lokalen zivilgesellschaftlichen Bündnisarbeit manchmal ist, sich nicht darüber zu zerfleischen, wer “die besten” Antifaschist:innen sind, sondern den gemeinsamen antifaschistischen Grundkonsens wohlwollend vorauszusetzen. Und dann hast Du jetzt eindrücklich beschrieben, wie schwierig es ist, gegen diese naiven Vorstellungen von Demokratie vorzugehen, dass sich die Rechten ja schon von selbst zerlegen würden, wenn man sie nur toleriert, integriert oder einfach tun lässt. Und die Realität zeigt ja eindeutig, dass rechte Parteien in der Regierung sehr wohl Politik machen – nur halt für sich und ihre Klientel und auf Kosten aller anderen und der Errungenschaften, die viele heute anscheinend immer noch für selbstverständlich oder nicht schützenswert halten. Wie kriegt man da die Füße auf den Boden der Realität? Welche Themen und Konflikte müssen wir offen auf den Tisch legen? Und welche Illusionen müssen wir als Zivilgesellschaft womöglich aufgeben?

Wir müssen vor allem ehrlich zu uns selbst sein. Wenn wir behaupten, den Ernst der Lage tatsächlich zu begreifen, müssen wir uns ehrlich machen und uns gegenseitig ernst nehmen. Und dann muss man erst einmal akzeptieren, dass es unterschiedliche antifaschistische Strategien geben darf. Und diese Wege führen alle in eine Richtung, kreuzen sich manchmal und im Idealfall verstärken sich diese Strategien gegenseitig.

Es ist fatal, wenn man sich gegenseitig angreift und damit nur schwächt, weil die einen zum Beispiel mit Parteien zusammenarbeiten und die anderen dies kategorisch ablehnen. Ich habe deshalb auch wirklich Angst, wenn ich an die Wahlen auf Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europaebene, die hier für uns 2024 und 2025 anstehen. Das kann dramatisch ausgehen. Und da sitzt man dann manchmal in kleiner Runde zusammen und in Momenten der Verzweiflung sagt dann einer: “Vielleicht ist alles verloren!”

Und da gibt es nur einen Ausweg heraus: Wir müssen verschiedenste Menschen und Gruppen mit dem Ziel vereinen, das zu verhindern, und mit unterschiedlichen Strategien und Methoden mit den Menschen hier in der Stadt ins Gespräch zu kommen. Und das bedeutet dann meiner Meinung nach – für einige: leider – auch bei den kommenden Wahlen zum Gang zur Wahlurne aufzurufen und progressive Parteien zu unterstützen.

In unserem Fall des Weltecho kann das existenziell werden. Denn bislang hängt unsere Finanzierung an jeder einzelnen Stimme im Stadtrat, und das bedeutet, dass wir immer eine Stimme von der CDU oder der FDP benötigen, die sich für uns ausspricht. Das haben wir bislang immer noch irgendwie geschafft, diesen Kampf zu gewinnen. Ist diese Stimme aber einmal nicht mehr sicher oder die Person krank, oder sollte es in Zukunft tatsächlich eine rechte Mehrheit im Chemnitzer Stadtrat geben, wird diese sicher nicht zulassen, dass das Weltecho öffentliche Fördergelder erhält.

 

Im Endeffekt ist dieser Kampf gegen Rechts – wie Du jetzt mehrfach deutlich gemacht hast – also im wahrsten Sinne des Wortes eine existenzielle Frage. Das gilt aber natürlich nicht nur für einzelne Menschen und Gruppen und ihre persönlichen Schicksale, sondern wie Du sagst auch für Institutionen. Wenn wir zum Beispiel auf die Orte in Osteuropa schauen, wo Rechte schon länger an der Macht sind, sehen wir eindeutig, dass Orte und Menschen, die für Kunst und Kultur, Soziales, Bildung und eine demokratische und solidarische Zivilgesellschaft kämpfen, häufig die ersten sind, die es trifft. Viele Orte werden entweder einfach dicht gemacht, große Institutionen durch neue Leitungen auf rechten Kurs gebracht, und andere mit Repressionen zum Schweigen gebracht. Und bis es soweit ist, werden Aktivist:innen, Künstler:innen und die Zivilgesellschaft als elitäre Miesmacher und linksgrün versiffte Gutmenschen diffamiert, die sich scheinbar nicht um die wahren Sorgen der Menschen scheren würden.

Ja, wir brauchen uns da nichts vormachen. Und das bedeutet auch, dass wir in unserer Situation mit der kollektiven Selbstbeweihräucherung aufhören sollten. Ja, wir sind alle toll und wichtig. Empowerment und Erfolge zu feiern ist eine Sache, aber wir sollten dabei nicht aus den Augen verlieren, dass wir am Anfang eines langen Weges stehen, auf dem wir noch viele Menschen zu gewinnen haben, denen noch nicht klar ist, was wir alle zu verlieren haben.

Und es wäre dramatisch, wenn es uns als Ort zum Beispiel nächstes Jahr nicht mehr für diesen Kampf gäbe. Aber Menschen und Gruppen, diejenigen, die in dieser Gesellschaft am Verwundbarsten sind, die keine Institutionen wie wir sind, trifft es dann ja noch viel härter. Und das ist vielen hier leider noch nicht ausreichend klar. Dass wir auf die Errungenschaften, die wir uns hart erkämpft haben, sehr angewiesen sind, weil die Kämpfe ohne diese Ressourcen und die Macht zwar nicht vorbei wären, aber erst einmal noch viel schwerer würden.

Radparade für den Frieden 2022 in Chemnitz (Fotos: Daniel Franz)

 

Julia und ich sprechen zum Schluss, als die Aufnahme nicht mehr läuft, über die Trauer, das Verlieren und das Gewinnen. Denn manchmal habe ich Angst, dass wir uns die Niederlagen und Verluste, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, schon früher hätten eingestehen müssen. So fühlt es sich immer an, als ob wir die ultimative Niederlage erahnen und auf kurze Sicht zu verhindern versuchen und uns dabei denken können, dass ja “alles noch nicht ganz so schlimm” sei, weil es ja immer noch schlimmer kommen kann. Aber eigentlich ist es ja jetzt schon viel zu schlimm … Und diese Trauer über die politischen Traumata, die wir erfahren, könnte dann vielleicht auch eine ganz neue Energie für unsere Träume von einer besseren Gesellschaft freisetzen, wenn wir angesichts der Schmerzen und der Erschöpfung innehalten, sie kollektiv anerkennen und politisch verarbeiten. Um auf lange Sicht wirklich etwas zu gewinnen …

About the contributor

Julia Voigt
Geschäftsführung (Weltecho & Hand in Hand e.V.)

Als 1996 geborene Chemnitzerin hat sich Julia Voigt schon in jungen Jahren in der lokalen Kulturbranche etabliert. Geleitet von ihrem kulturpolitischen Interesse arbeitet und engagiert sie sich seit 2017 im Kulturzentrum Weltecho in Chemnitz. Seit 2019 ist sie dort Teil der Geschäftsführung und bringt ihre Perspektive seither durch eine Vielzahl verschiedenster Formate prägend in der Chemnitzer Kulturszene ein.

Als Gründungsmitglied vertrat sie 2020 »Das Ufer e.V.« im Professionalisierungsprozess des Kulturbündnisses Hand in Hand e.V. zum Lobbyverband diversester Chemnitzer Kulturakteur*innen und Institutionen. Als stellvertretende Vorstandsvorsitzende vertritt sie dort die Schwerpunkte Diskriminierungsfreiheit, Stadtentwicklung, Generationskonflikt und Kulturpolitik gegenüber Gesellschaft und Politik aus der Perspektive der lokalen Kulturbranche.

Als Veranstalterin hat sie auch außerhalb des Weltechos diverse Projekte begleitet und geleitet, dazu zählen unter anderem das Hand in Hand-Open Air, »Friday I’m in Love«-Konzerte und die Radparade zum Chemnitzer Friedenstag 2022 und 2023. Seit 2021 gehört sie außerdem dem KOSMOS Team an. Als externe Festivalleiterin aus der freien Szene gestaltet sie gemeinsam mit der städtischen Tochtergesellschaft „Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ sowie weiteren Akteur*innen aus Chemnitz, Sachsen, Deutschland und Europa die popkulturelle Auseinandersetzungen mit dem Zusammenleben der Stadtgesellschaft und deren Demokratieverständnis im Rahmen eines kostenfreien Festivals.