“Politische Bildung unter Druck” – Startkollektion der JoDDiD
Ich erinnere mich beim Zuhören an eine Veranstaltung der Partnerschaft für Demokratie Chemnitz unter dem Titel “Banden, Bündnisse, Netzwerke? – Herausforderungen und Chancen der Chemnitzer Zivilgesellschaft”, bei der ich einen Vortrag halten durfte. Vor mir was es Prof. Dr. Friedhelm Hufen von der Universität Mainz, der in seinem Vortrag „Das Neutralitätsgebot - Maulkorb für Lehrkräfte, Verwaltung und Jugendarbeit?” mit allerlei Missverständnissen aufgeräumt hat. Er machte klar, dass politische Bildungsarbeit nie „neutral“ sein kann – vor allem wenn es um Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz geht. Und doch hatte mich bei den vielen Nachfragen aus dem Publikum beunruhigt, wie sehr die Interventionen von rechten Politiker:innen und Gruppierungen zivilgesellschaftliche Akteur:innen und politische Bildner:innen inzwischen verunsichert haben, was sie eigentlich dürfen oder nicht dürfen.
Was hat die politische Bildung eigentlich in einem Fall zu tun, in dem wir ganz eindeutig wie zum Beispiel in der Klimadebatte oder den Meldeportalen der AfD sehen, dass viel politische Meinungs- und Willensbildungsprozesse auch von Akteurinnen beeinflusst werden, die einerseits nicht nur klar interessengesteuert sind, sondern auch tatsächlich Desinformation und Verschwörungsideologien verbreiten?
Es ist eine Norm und gleichzeitig ein unerreichtes Ideal, die politische Gleichheit zu behaupten. Vor einiger Zeit habe ich beim Kinder - und Jugendring Sachsen ein U18-Wahlprojekt betreut und damals ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass die U18-Wahl eine pure Simulation ist.
Eigentlich interessiert die U18-Wahl niemanden, bis auf die Schlagzeile, die dann verkündet, wen die Jugendlichen gewählt haben. Wenn die Jugendlichen dann zu Wähler:innen werden, haben sie nicht mehr annähernd die Stimme, die sie anfangs in der U18-Wahl hatten. Selbst wenn alle Jugendlichen bis 30 zur Wahl gehen würden, bleibt ihr Anteil in der Waagschale ein Bruchteil des Anteils der Babyboomer.
Ich glaube, politische Bildung sollte mehr Fortschritt aufzeigen. Aktuell ist die Gesellschaft von Weltuntergangsthesen geprägt und der Annahme, dass alles immer nur noch schlechter wird. Viele Bürger:innen glauben, dass das Einzige, was sie noch tun können, ist, dagegen aufzubegehren. Diese Annahme widerspricht den vielen realen Fällen, die zeigen, dass es durchaus Progression gibt. Das Beispiel Mindestlohn macht es deutlich. In 2010, 2011 und 2012 haben Volkswirtschaftler:innen noch gewarnt, dass mit dem Mindestlohn die Wirtschaft am Boden liegen wird und das Land untergeht. Heute sehen wir den Mindestlohn als Selbstverständlichkeit an.
Es ist wichtig, sich mit den Krisen dieser Zeit auseinanderzusetzen, aber ich muss auch betonen, dass wir aktuell in einer komfortablen Situation leben. Natürlich sollten wir es uns in dieser Komfortzone nicht bequem machen. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir Dinge verändern können. Wir sollten über Politik sprechen, also die Möglichkeit, dass sich alles ändern kann und genau das muss auch in die politische Bildungsarbeit einfließen. Mit Hannah Arendt gesprochen:
„Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und etwas Neues in Bewegung setzen.“
Hannah Arendt
Es ist immer in den kleinen Momenten, in denen Wirksamkeit sichtbar gemacht werden kann. Ein weiteres Beispiel wäre deshalb ein Erlebnis aus einem Wahlprojekt vor den letzten Bundestagswahlen. Jugendliche finden die Debatte zur Legalisierung von Cannabis spannend, weil es für ihre Lebensrealität völlig klar ist, dass Cannabis verboten ist. Eine Auseinandersetzung mit einer solchen Wahl macht klar, dass die Illegalisierung eine gemachte Regel ist und die Legalisierung somit genauso eine machbare Regel sein könnte.
Das war ja in der Debatte zu einer vermeintlichen “allgemeinen Impfpflicht” ähnlich. Es war eine politische Entscheidung zu sagen, dass für bestimmte Menschen diese Impfpflicht aus diesen und jenen Erwägungen eingeführt wird. Das wurde breit diskutiert, und dann wurde die Entscheidung getroffen, diese spezifische Impfpflicht auf einen Personenkreis zu beschränken und nicht für alle Zeit einzuführen. Es geht um das Abwägen und das Austarieren verschiedener Aspekte. Es ist ein ständiges Aushandeln der schwierigen Fragen, das ist eben Politik.
Aber Politik hat auch die Macht, Dinge immer wieder ganz anders zu machen. Das 9-Euro-Ticket war auch so ein Beispiel. "Einfach von jetzt auf gleich umgesetzt."
Nicht selten habe ich das Gefühl, dass Demokratie von vielen Menschen als fauler Kompromiss erlebt wird, der ihnen im Endeffekt gar nichts nützt, der aber von allen demokratiesymbolisch mitgetragen werden muss. Und dann geht es meistens um dieses unausgesprochene Gefühl politischer Ungleichheit. Was bedeutet eigentlich meine Stimme im Kontext nicht nur einer gesamten Gesellschaft, sondern im Kontext auch von vielen sehr ungleich verteilten Interessen und Zugängen zu Entscheidungsprozessen? Und dann gibt es da manchmal die andere Seite der Medaille, die politische Teilhabe, die nur als Symbol ohne reale Konsequenzen erfahren wird.
Das 9-Euro-Ticket ist ein schönes Gegenbeispiel, weil es für viele Menschen möglicherweise das erste Mal war, dass sie Politik erlebt haben, die ihr Leben schlagartig erleichtert hat. Plötzlich kann man in einer fremden Stadt unterwegs sein, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wie die Fahrkartenautomaten funktionieren, welches Ticket man benötigt und ob man genug Geld dabei hat.
Tatsächlich hat Politik viel mit den Sorgen zu tun, die unser Leben beeinflussen und wie wir füreinander sorgen wollen. Das 9-Euro-Ticket hat deutlich gezeigt, wie stark dieser Effekt sein kann und wie überraschend es für viele Menschen war. Besonders junge Menschen, die vielleicht nicht viel politische oder historische Erfahrung haben, haben möglicherweise die Welt als unveränderlich betrachtet. Sie dachten, dass bestimmte Dinge einfach so sein müssen, ohne sie zu hinterfragen. Aber das 9-Euro-Ticket hat gezeigt, dass die Welt nicht in Stein gemeißelt ist und dass sie tatsächlich veränderbar ist, auch wenn diese Änderung zunächst befristet war. Es erzeugt eine neue Erfahrung und zeigt, dass Demokratie eine echte Kraft hat, die das Leben der Menschen verbessern kann. Es ist wichtig, Menschen zu helfen, zu verstehen, dass Veränderung möglich ist und dass sie Teil dieses Prozesses sein können, indem sie sich politisch engagieren, ihre Stimme erheben und ihre Ideen einbringen. So können sie aktiv daran mitwirken, wie ihre Gesellschaft gestaltet wird und wie Politik ihr Leben beeinflusst.
Was glaubst Du, was Menschen hilft, zu verstehen, dass ihr und unser aller Leben tatsächlich positiv veränderbar ist?
Ich glaube, dass es oft auf der Ebene von Stadtteilprojekten Aktivitäten gibt, die den Menschen zeigen, dass vieles tatsächlich veränderbar ist. Zum Beispiel gibt es die sogenannten “48-Stunden-Aktionen”, bei denen Gruppen in einem konkreten Zeitraum gemeinschaftlich etwas planen und umsetzen. In Dresden haben wir ein cooles Projekt namens “FOR:UMWANDLUNG”, bei dem ein modulares Stadtmöbel auf einem Fahrradanhänger durch die Stadt gefahren wird, um Räume zu gestalten, in denen Menschen sich treffen können, die eine angenehme Aufenthaltsqualität haben.
Solche Aktivitäten sind unglaublich ermutigend. Gemeinschaftsgärten sind ebenfalls ein gutes Beispiel dafür. Wir nehmen uns diesen Raum und setzen das um, was wir für wichtig und notwendig erachten. Diese 48-Stunden-Aktionen sind unglaublich empowernd und bieten Menschen und oft auch Jugendgruppen die Möglichkeit, konkret etwas zu verändern, ohne sich dauerhaft zum Beispiel einem Verein anschließen zu müssen. Man kann einfach etwas aus dem kreativen Impuls heraus verändern, ohne für alle Zeiten Feuerwehrfrau oder -mann zu sein. Es geht darum, die Erfahrung zu machen, selbst etwas bewirken zu können.
Ein wichtiger Aspekt ist auch der Dialog zwischen Politik und Bürger:innen auf allen Ebenen. Politikerinnen und Politiker sollten aktiv auf die Menschen zugehen und Fragen stellen, um den Alltag der Menschen besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Wenn zum Beispiel eine Schulklasse den Landtag hier in Sachsen besucht, soll es auf keinen Fall so ablaufen, dass die Klasse eine Frage vorbereitet und diese dann mit zitternder Stimme vorliest und sich danach eine Stunde einen Monolog von den Politiker:innen anhört, sondern dass die Abgeordneten sich den Schüler:innen zuwenden und zuhören, was in ihrem Alltag Realität ist. Eine gute Variante wäre zum Beispiel eine Mini-Lobby-Veranstaltung, bei der Politiker:innen lernen, was den Menschen wichtig ist. Anstatt des Fokus auf Selbstdarstellung, wäre es viel wichtiger, dass Bürger:innen merken, dass Politiker:innen mit Herzblut dabei sind, trotz ihrer Sachzwänge und komplexer Abwägungsprozesse.
Wir sprechen über politische Formate. Ihr habt als JoDDiD das sehr inspirierende “Logbuch Politische Bildung” entwickelt. Wie sollten denn Materialien für die politische Bildung für professionelle Fachkräfte als auch für Nicht-Professionelle idealerweise pädagogisch wertvoll und politisch sinnvoll gestaltet sein?
Das erste "Logbuch Politik" wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung für junge Menschen veröffentlicht und erwies sich als eines der erfolgreichsten politischen Bildungsmaterialien. Meine Lieblingsseite darin ist eine Aufgabe zu etwas scheinbar Nutzlosem. Es ist eine großartige Aufgabe, denn sie erfordert, dass man sich Gedanken darüber macht, wann etwas wirklich nutzlos ist. Dabei wird eine bestimmte Art der Ansprache genutzt, die sehr effektiv funktioniert. Die kompakten Aufgaben bringen einen zum Nachdenken und regen Gespräche an. Endlich mal etwas sowohl für Weiterbildungsformate als auch für informelle Begegnungen, wie die Kaffeepause oder den Mittagstisch. Oft kann man mit einem Augenzwinkern agieren, aber generell hat das Projekt eine starke Wirkung.
Eine Aufgabe aus dem "Logbuch Politik" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
Unser “Logbuch Politische Bildung” entstand dann aus der Erfahrung, dass diese Art der Ansprache gut funktioniert und dass bestimmte didaktische Strategien in die Breite getragen werden sollten. Es ist grafisch ansprechend gestaltet und vermittelt auf didaktisch anspruchsvolle Weise verschiedene politisch-bildnerische Konzepte. Manche didaktischen Strategien sind dabei nicht offensichtlich erkennbar, da es häufig Vorurteile darüber gibt, was Didaktik eigentlich bedeutet und wenig klar ist, dass es mehr ist als bloße Methodik. Das Logbuch versucht, dieses Verständnis zu erweitern.
Die Inhalte des Logbuchs wurden auf eine Art und Weise erarbeitet, die der Art der politischen Bildung entspricht, wie wir sie gerne sehen. Es werden einfach Fragen in den Raum gestellt, und der Impuls besteht oft aus einer Frage. Zum Beispiel: "Was hast Du letzte Woche für die Demokratie getan?" eine Antwortoption ist: "Ich war freundlich." Solche Antworten führen zu Irritationen, man denkt über den Begriff "Demokratie" nach und betrachtet seine Bedeutung neu. Das Logbuch dient so als Inspiration für selbstbestimmte Auseinandersetzungen mit politischer Bildung und Demokratie. Es gibt kein festgelegtes Curriculum, das von A bis Z abgearbeitet werden muss. Stattdessen wird der Fokus auf die Praxis gelegt. Es geht darum, politische Bildner:innen dabei zu unterstützen, eigene didaktische Entscheidungen zu treffen und die Theorie als Werkzeug und Grundlage für die Praxis zu nutzen.
Das Logbuch soll an vielen Stellen Brücken bauen und Menschen der politischen Bildung näherbringen. Es dient als Grundlage für unsere gesamte Arbeit bei der JoDDiD, denn wir nutzen es um unsere Angebote zu erweitern und Menschen zu zeigen, dass sie die Konzepte nicht neu erfinden müssen. Es gibt bereits viele bewährte konzeptuelle Ansätze, Erfahrungen und räumliche Arrangements, die wir nutzen können, um kreative politische Bildung zu machen, die nicht nur die üblichen Verdächtigen anspricht.
Nach dem Gespräch mit Agnes blättere ich noch weitere im “Logbuch Politische Bildung”, finde viele Fragen, die ich in zukünftigen Workshops selbst nutzen möchte, und denke, dass es doch das ist, worüber wir gesprochen haben: Wie kann politische Bildung eigentlich nützlich, hilfreich und unterstützend sein – nicht nur abstrakt für die Demokratie, sondern konkret für jede:n Einzelne:n.