»Neutralität gibt es in der politischen Bildung nicht« – Interview mit Agnes Scharnetzky (JoDDiD)

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Published
14.11.2023
Language
German
Level
Advanced
Length
19 Minutes
Categories
Facilitation & Deliberation, Community & Union Organizing, Institutional Revolutions
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Es ist schon länger her, dass wir auf die John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (JoDDiD) aufmerksam gemacht wurden. Wenn man sich die Webseite und die Social Media-Kanäle anschaut, ist man auf Anhieb überrascht, wie anders hier politische Bildung dargestellt wird. Sie wirkt nicht langweilig, sondern leidenschaftlich, manchmal kommt das Gefühl auf, dass es hier um all das geht, was unsere Gesellschaft und unser Leben im Kern betrifft.

Und doch muss ich gerade deshalb vor dem Gespräch mit Agnes Scharnetzky daran denken, wie häufig die politische Bildung – wegen ihrer beschränkten finanziellen Möglichkeiten und der ständigen Angriffe von Rechts – an der Realität vorbeigeht und es nicht gelingt, Menschen nicht dazu zu bewegen, ihr Leben als Teil einer großen politischen Öffentlichkeit zu verhandeln. Entweder weil sie nicht als für sie gemacht erfahren wird, oder weil sie didaktisch und methodisch wie ein Geist aus dem letzten Jahrhundert erscheint: von oben belehrend …

Zitat von John Dewey, dem Namensgeber der JoDDiD

 

Georg Blokus: Hallo Agnes, wer bist Du, was machst Du und wie bist Du dazu gekommen?

Agnes Scharnetzky: Mein Name ist Agnes Scharnetzky. Ich bin seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin bei der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (JoDDiD) an der Technischen Universität Dresden. Zuvor war ich schon lange im Bereich der politischen Bildung aktiv und zivilgesellschaftlich gegen Rechtsextremismus engagiert. Unter anderem habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr Politik gemacht, mein Lehramtsstudium in Gemeinschaftskunde absolviert und war nach dem Studium in der Lehrer:innenausbildung und in der politischen Jugendbildungsarbeit tätig, unter anderem bei der Aktion Zivilcourage in Pirna und beim Kinder- und Jugendring Sachsen e.V. sowie beim Bayerischen Jugendring.

 

Wie ist die JoDDiD eigentlich entstanden und was ist der Auftrag, dem Ihr Euch verpflichtet fühlt?

Entstanden ist das Ganze, als der Lehrstuhl von Prof. Dr. Anja Besand, der vor allem in der Lehramtsausbildung aktiv war, regelmäßig von Akteur:innen der politischen Bildung, Fördermittelgebern und außerschulischen nonformalen politischen Bildungsinitiativen angefragt wurde, in Beiräten zu sitzen, Expertisen beizusteuern und wissenschaftliche Evaluationen durchzuführen. Insbesondere bei den Evaluationsprojekten hat es sich als brauchbarer erwiesen, diese im Sinne der wissenschaftlichen Begleitung anzugehen und beratend tätig zu sein, um dabei zu helfen, die politische Bildungspraxis mit passender didaktischer Theorie und Forschung zu verbessern.

Eine Reflexion aus dem “Logbuch Politische Bildung” der JoDDiD

Ein anderer Teil der Entstehungsgeschichte war ein großer Traum, der schon lange besteht. Wir träumen davon, in Deutschland ein sozialwissenschaftliches Museum aufzubauen, in dem Politik und Demokratie nicht nur erklärt, sondern auch in politisch informativer und ästhetisch ansprechender Form für Körper und Sinne erfahrbar werden. Ganz ähnlich wie in einem naturwissenschaftlichen Mitmachmuseum.

In der JoDDiD haben wir einen großen Innovationsbereich. Heute können wir Dank der finanziellen Mittel an politisch-didaktischen Materialien und Formaten arbeiten, um politische Bildung jenseits klassischer Angebote niedrigschwellig für die Breite der Gesellschaft zugänglich zu machen.

Die Arbeitshypothese von uns hier in der JoDDiD ist im Grunde, dass es politische Bildung als ein Angebot geben sollte, das überall für alle niedrigschwellig zugänglich ist. Wir versuchen mit unserer Arbeit also, Menschen Beteiligung zu ermöglichen und leichter zu machen.

“Was politische Bildung ist oder sein könnte” – Startkollektion der JoDDiD

Es wird ja in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur von bildungsfernen sondern auch im Zuge der Debatten um Politikverdrossenheit oder -verdruss nicht selten von demokratiefernen Milieus gesprochen. Damit sind dann nicht nur sog. besorgte Bürger:innen und AfD-Sympathisant:innen gemeint, wie wir sie aus unzähligen Medienberichten kennen, sondern ganz große Teile der Gesellschaft, die nicht politisch-bildnerisch sozialisiert oder zivilgesellschaftlich engagiert sind. Menschen, die in politischen Debatten und zivilgesellschaftlichen Räumen nicht beheimatet sind, sich darin quasi nicht in aller Selbstverständlichkeit mit einem “politischen Habitus” bewegen können. Im schlimmsten Fall ist es dann so, dass diese Menschen trotz ihrer selbstverständlich vorhandenen politischen, sozialen und ökonomischen Interessen als per se ungebildet, als ignorant oder als faul bezeichnet werden, und damit als nicht würdig für den “zivilisierten” politischen Diskurs hingestellt werden. Mich nervt das immer ungemein, weil das meistens aus so einer abschätzigen Haltung der Überlegenheit heraus geschieht, mit der sich Demokrat:innen politisch-kulturell von der Masse abzuheben versuchen … Vor Wahlen, wenn über Protest- oder Nichtwähler:innen gesprochen wird, kann man das am häufigsten beobachten. Und jenseits des Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von AfD-Wähler:innen befindet sich so ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft, der nicht lautstark der Menschenfeindlichkeit das Wort redet, nicht nur außerhalb des politischen Parteienspektrums, sondern auch allgemein außerhalb der politischen Öffentlichkeit.

 

Was habt Ihr für Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem sächsischen Kontext, wenn es um politische Bildung geht, die nicht nur “die üblichen Verdächtigen” adressiert?

Ich nehme wahr, dass sich gerade viele Akteur:innen und Institutionen auf den Weg machen, um andere und breite Teile der Gesellschaft zu adressieren. Das Diakonische Werk hat uns zum Beispiel angefragt, weil sie mehr politische Bildung in ihren beruflichen Weiterbildungskatalog aufnehmen wollen. Sie haben erklärt, dass politische Bildungsangebote heute von den Mitarbeiter:innen als Teil beruflicher Kompetenzen wahrgenommen werden sollen, um in aktuellen Debatten sprech- und handlungsfähiger zu sein. Die Bildungsangebote haben etwas mit Ermächtigung zu tun. Diese kann über Fakten, Informationen, Argumente, Analysen und eine persönliche Auseinandersetzung mit der politischen Positionierung erreicht werden. Genau so entstehen politische Urteile – jenseits von simplen Meinungsäußerungen. Auf der Handlungsebene werden Argumente realitätsnaher,  können begründet und später in der Praxis gelebt werden.

Ich verstehe politische Bildung deshalb als einen Aushandlungsraum. Genau so hat sie auch das größte Potential in der Breite. Es geht nicht darum, genau zu verstehen, wie die Sächsische Landtagswahl oder die US-Präsidentschaftswahl funktioniert, sondern vielmehr darum, sich in Positionierungssituationen zu begeben. Wir müssen für Menschen erfahr- und reflektierbar machen, dass ihre Position erst einmal genau das ist, nämlich eine Position und damit keinen Wahrheits - oder Allgemeingültigkeitsanspruch besitzt. Im besten Fall bin ich als Mensch auch bereit, sie zu ändern, wenn ich mich von anderen überzeugen lasse.

Eine Herausforderung, die ich hier in Sachsen sehe ist, dass es so schnell so konfrontativ wird. Also das Problem habe ich auch manchmal in bestimmten Bürger:innenbeteiligungsprozessen, wo am Ende des Prozesses gesagt wird, dass alles sinnlos war, weil die Umsetzung nicht aussieht, wie ich es mir gewünscht habe. Es ist wichtig, Menschen zu zeigen, dass dies nicht heißt, dass ihre Position nicht in die Überlegungen eingeflossen ist. Die Position wurde vielleicht nur begründet zurückgewiesen oder teilweise übernommen. Ich glaube, politische Bildung hat einen Auftrag, diesen demokratischen Mitbestimmungsmechanismus stärker zu verdeutlichen.

Natürlich gibt es konkurrierende Modelle zum Auftrag der politischen Bildung, jedoch tauchen grundlegende Fragen nach Gerechtigkeit, Macht und Gemeinwohl immer wieder auf. Was ist gerecht? Was ist Macht? Wer hat Macht? Wer hat wie viel Macht? Wer hat keine Macht? Was ist gut für uns alle? Das klingt abstrakt, ist aber eigentlich sehr konkret.

Einige prägende Erlebnisse hatte ich im Zuge der Kompetenzdebatte zur PISA-Studie für die Schulen, wo einige Basiskonzepte von Politik entwickelt wurden. Ich erinnere mich besonders an ein Schlüsselerlebnis am Beginn meines Studiums im Jahr 2007, als ich mich intensiv mit der Sächsischen Landtagswahl 2004 beschäftigt habe. Das war der erste Dammbruch in Sachsen, als die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) fulminant in den Landtag eingezogen ist. Damals gab es eine Wähler:innenbefragung, bei der viele NPD-Wähler:innen der Aussage zugestimmt haben, dass sie weniger erhalten würden, als ihnen gerechterweise zustehe. Dieses Narrativ ist heute immer noch relevant und kommt immer wieder vor, wenn es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht.

Ich ermutige Menschen aus der politischen Bildungsarbeit immer: “Fahrt den Input runter und den Aushandlungsprozess hoch!” Dabei geht es nicht nur um Dialog und Zuhören, sondern auch um das Aushalten einer tatsächlichen Aushandlung, auch wenn es kontrovers und manchmal problematisch wird. Ich sage dann immer: “Stellt grundlegende Fragen, versucht das Argument des anderen wohlwollend nachzuvollziehen, beschäftigt Euch nicht nur mit Tagespolitik oder extrem polarisierenden Themen wie der Corona-Impfung, dem Heizungsgesetz oder dem Recht auf Asyl. Bringt die Menschen dazu, sich mit diesen Grundfragen zu beschäftigen und vermittelt ihnen einen Eindruck davon, was in der Politik ständig über ihr Leben verhandelt und entschieden wird.” Die Frage, ob etwas gerecht ist oder nicht, kann man in jeder politischen Debatte diskutieren, sie ist völlig austauschbar.

Zitat aus dem Gedicht »An Invitation to a Brave Space« von ScottyBey Jones, das von der JoDDiD geteilt wird

Ja, ich habe das Gefühl, dass viele Menschen selten nach ihrem Empfinden von Gerechtigkeit gefragt werden und dadurch nicht nur das berechtigte Gefühl haben, Ungerechtigkeiten zu erleben, sondern auch die Deutungsmacht darüber zu verlieren. Stattdessen werden sie manchmal in Meinungsumfragen zu emotionalisierten tagesaktuellen politischen Kontroversen befragt. Dadurch fühlen sie sich nicht ernstgenommen und infantilisiert. Dies bringt sie in eine Position, aus der sie leicht als “unreflektiert” erscheinen können. Genau das verstärkt nur die Erfahrungen politischer Ohnmacht, Isolation und Sprachlosigkeit, die für viele zum Alltag gehören. Ich möchte dann manchmal persönlich diese Menschen zur Seite stehen und sie vor unüberlegten Aussagen bewahren, da ich nicht glaube, dass ihre Aussagen ihre Position oder Lebensrealität angemessen widerspiegeln. Hat politische Bildung auch die Aufgabe, anwaltschaftlich tätig zu sein und die manchmal vorgetäuschte neutrale Position zu verlassen, oder wäre das Bevormundung und Entmündigung?

Neutralität gibt es in der politischen Bildung nicht. Und es gibt dazu auch keinen legitimen rechtlichen Grund, geschweige denn, dass es ein sinnvoller Anspruch wäre. Ich glaube, dass Menschen in politischen Bildungsprozessen ein Recht darauf haben, dass politische Bildner:innen nicht parteipolitisch irgendwelche Fahnen hochhalten.

Aber ich glaube eben auch, dass politische Bildung darüber hinaus im Sinne des Beutelsbacher Konsens eine Pflicht zur Kontroversität hat. Und dass diese Reibungspunkte, Widersprüche und Ambivalenzen demokratisch genutzt werden. Vor allem junge Menschen müssen sich politisch diskursiv ausprobieren dürfen, weil der politische Bildungsraum ja auch nicht kongruent ist mit der öffentlichen Debatte im politischen Raum. In solchen politischen Bildungsprozessen diskutieren wir zum Beispiel Fragen wie die Todesstrafe und probieren manchmal Standpunkte, von denen wir in einer anderen Situation sagen würden, dass sie nicht diskutabel sind.

Ich glaube, die Erfahrung des Widerspruchs ist enorm wichtig. Politische Bildner:innen haben dabei eine entscheidende Rolle. Sie müssen darauf achten, ob nur sehr zögerlicher Widerspruch aus der Gruppe kommt und diesem moderativ Raum geben oder ob Widerspruch sehr plump zurückgewiesen wird. In einigen Fällen kann ich auch in der anwaltlichen Funktion sein oder den Widerspruch verstärken, indem ich sage, dass diese Position genauso wichtig ist und ernst genommen werden muss. Oder es kommt gar kein Widerspruch oder es werden Positionen vertreten, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zeigen und sich gegen Menschen im Raum richten, die selbst betroffen sind. Dann ist es auch die Aufgabe der politischen Bildner:innen, diese Positionen verantwortungsbewusst in den Raum zu tragen.

Position von Prof. Anja Besand (JoDDiD) zum vermeintlichen Neutralitätsgebot

Ich glaube, es ist sehr wichtig, uns immer wieder bewusst zu machen, dass Demokratie nicht nur bedeutet, dass die Mehrheit über die Minderheit entscheidet, sondern dass es um die Vielfalt der Positionen und Interessen geht, die miteinander ausgehandelt werden müssen, und vor allem um den Schutz von Minderheiten. Wir müssen uns also im Rahmen kritischer politischer Bildungsprozesse immer bewusst machen, welche persönlichen Konsequenzen eine politische Entscheidung für diejenigen hat, die am wenigsten davon profitieren oder sogar benachteiligt werden, und wie wir das ausgleichen können.

“Politische Bildung unter Druck” – Startkollektion der JoDDiD

Ich erinnere mich beim Zuhören an eine Veranstaltung der Partnerschaft für Demokratie Chemnitz unter dem Titel “Banden, Bündnisse, Netzwerke? – Herausforderungen und Chancen der Chemnitzer Zivilgesellschaft”, bei der ich einen Vortrag halten durfte. Vor mir was es Prof. Dr. Friedhelm Hufen von der Universität Mainz, der in seinem Vortrag „Das Neutralitätsgebot - Maulkorb für Lehrkräfte, Verwaltung und Jugendarbeit?” mit allerlei Missverständnissen aufgeräumt hat. Er machte klar, dass politische Bildungsarbeit nie „neutral“ sein kann – vor allem wenn es um Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz geht. Und doch hatte mich bei den vielen Nachfragen aus dem Publikum beunruhigt, wie sehr die Interventionen von rechten Politiker:innen und Gruppierungen zivilgesellschaftliche Akteur:innen und politische Bildner:innen inzwischen verunsichert haben, was sie eigentlich dürfen oder nicht dürfen.

 

Was hat die politische Bildung eigentlich in einem Fall zu tun, in dem wir ganz eindeutig wie zum Beispiel in der Klimadebatte oder den Meldeportalen der AfD sehen, dass viel politische Meinungs- und Willensbildungsprozesse auch von Akteurinnen beeinflusst werden, die einerseits nicht nur klar interessengesteuert sind, sondern auch tatsächlich Desinformation und Verschwörungsideologien verbreiten?

Es ist eine Norm und gleichzeitig ein unerreichtes Ideal, die politische Gleichheit zu behaupten. Vor einiger Zeit habe ich beim Kinder - und Jugendring Sachsen ein U18-Wahlprojekt betreut und damals ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass die U18-Wahl eine pure Simulation ist. 

Eigentlich interessiert die U18-Wahl niemanden, bis auf die Schlagzeile, die dann verkündet, wen die Jugendlichen gewählt haben. Wenn die Jugendlichen dann zu Wähler:innen werden, haben sie nicht mehr annähernd die Stimme, die sie anfangs in der U18-Wahl hatten. Selbst wenn alle Jugendlichen bis 30 zur Wahl gehen würden, bleibt ihr Anteil in der Waagschale ein Bruchteil des Anteils der Babyboomer. 

Ich glaube, politische Bildung sollte mehr Fortschritt aufzeigen. Aktuell ist die Gesellschaft von Weltuntergangsthesen geprägt und der Annahme, dass alles immer nur noch schlechter wird. Viele Bürger:innen glauben, dass das Einzige, was sie noch tun können, ist, dagegen aufzubegehren. Diese Annahme widerspricht den vielen realen Fällen, die zeigen, dass es durchaus Progression gibt. Das Beispiel Mindestlohn macht es deutlich. In 2010, 2011 und 2012 haben Volkswirtschaftler:innen noch gewarnt, dass mit dem Mindestlohn die Wirtschaft am Boden liegen wird und das Land untergeht. Heute sehen wir den Mindestlohn als Selbstverständlichkeit an.

Es ist wichtig, sich mit den Krisen dieser Zeit auseinanderzusetzen, aber ich muss auch betonen, dass wir aktuell in einer komfortablen Situation leben. Natürlich sollten wir es uns in dieser Komfortzone nicht bequem machen. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir Dinge verändern können. Wir sollten über Politik sprechen, also die Möglichkeit, dass sich alles ändern kann und genau das muss auch in die politische Bildungsarbeit einfließen. Mit Hannah Arendt gesprochen:

„Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und etwas Neues in Bewegung setzen.“

Hannah Arendt

Es ist immer in den kleinen Momenten, in denen Wirksamkeit sichtbar gemacht werden kann. Ein weiteres Beispiel wäre deshalb ein Erlebnis aus einem Wahlprojekt vor den letzten Bundestagswahlen. Jugendliche finden die Debatte zur Legalisierung von Cannabis spannend, weil es für ihre Lebensrealität völlig klar ist, dass Cannabis verboten ist. Eine Auseinandersetzung mit einer solchen Wahl macht klar, dass die Illegalisierung eine gemachte Regel ist und die Legalisierung somit genauso eine machbare Regel sein könnte. 

Das war ja in der Debatte zu einer vermeintlichen “allgemeinen Impfpflicht” ähnlich. Es war eine politische Entscheidung zu sagen, dass für bestimmte Menschen diese Impfpflicht aus diesen und jenen Erwägungen eingeführt wird. Das wurde breit diskutiert, und dann wurde die Entscheidung getroffen, diese spezifische Impfpflicht auf einen Personenkreis zu beschränken und nicht für alle Zeit einzuführen. Es geht um das Abwägen und das Austarieren verschiedener Aspekte. Es ist ein ständiges Aushandeln der schwierigen Fragen, das ist eben Politik. 

Aber Politik hat auch die Macht, Dinge immer wieder ganz anders zu machen. Das 9-Euro-Ticket war auch so ein Beispiel. "Einfach von jetzt auf gleich umgesetzt."

Nicht selten habe ich das Gefühl, dass Demokratie von vielen Menschen als fauler Kompromiss erlebt wird, der ihnen im Endeffekt gar nichts nützt, der aber von allen demokratiesymbolisch mitgetragen werden muss. Und dann geht es meistens um dieses unausgesprochene Gefühl politischer Ungleichheit. Was bedeutet eigentlich meine Stimme im Kontext nicht nur einer gesamten Gesellschaft, sondern im Kontext auch von vielen sehr ungleich verteilten Interessen und Zugängen zu Entscheidungsprozessen? Und dann gibt es da manchmal die andere Seite der Medaille, die politische Teilhabe, die nur als Symbol ohne reale Konsequenzen erfahren wird.

 

Das 9-Euro-Ticket ist ein schönes Gegenbeispiel, weil es für viele Menschen möglicherweise das erste Mal war, dass sie Politik erlebt haben, die ihr Leben schlagartig erleichtert hat. Plötzlich kann man in einer fremden Stadt unterwegs sein, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wie die Fahrkartenautomaten funktionieren, welches Ticket man benötigt und ob man genug Geld dabei hat.

Tatsächlich hat Politik viel mit den Sorgen zu tun, die unser Leben beeinflussen und wie wir füreinander sorgen wollen. Das 9-Euro-Ticket hat deutlich gezeigt, wie stark dieser Effekt sein kann und wie überraschend es für viele Menschen war. Besonders junge Menschen, die vielleicht nicht viel politische oder historische Erfahrung haben, haben möglicherweise die Welt als unveränderlich betrachtet. Sie dachten, dass bestimmte Dinge einfach so sein müssen, ohne sie zu hinterfragen. Aber das 9-Euro-Ticket hat gezeigt, dass die Welt nicht in Stein gemeißelt ist und dass sie tatsächlich veränderbar ist, auch wenn diese Änderung zunächst befristet war. Es erzeugt eine neue Erfahrung und zeigt, dass Demokratie eine echte Kraft hat, die das Leben der Menschen verbessern kann. Es ist wichtig, Menschen zu helfen, zu verstehen, dass Veränderung möglich ist und dass sie Teil dieses Prozesses sein können, indem sie sich politisch engagieren, ihre Stimme erheben und ihre Ideen einbringen. So können sie aktiv daran mitwirken, wie ihre Gesellschaft gestaltet wird und wie Politik ihr Leben beeinflusst.

 

Was glaubst Du, was Menschen hilft, zu verstehen, dass ihr und unser aller Leben tatsächlich positiv veränderbar ist?

Ich glaube, dass es oft auf der Ebene von Stadtteilprojekten Aktivitäten gibt, die den Menschen zeigen, dass vieles tatsächlich veränderbar ist. Zum Beispiel gibt es die sogenannten “48-Stunden-Aktionen”, bei denen Gruppen in einem konkreten Zeitraum gemeinschaftlich etwas planen und umsetzen. In Dresden haben wir ein cooles Projekt namens “FOR:UMWANDLUNG”, bei dem ein modulares Stadtmöbel auf einem Fahrradanhänger durch die Stadt gefahren wird, um Räume zu gestalten, in denen Menschen sich treffen können, die eine angenehme Aufenthaltsqualität haben.

Solche Aktivitäten sind unglaublich ermutigend. Gemeinschaftsgärten sind ebenfalls ein gutes Beispiel dafür. Wir nehmen uns diesen Raum und setzen das um, was wir für wichtig und notwendig erachten. Diese 48-Stunden-Aktionen sind unglaublich empowernd und bieten Menschen und oft auch Jugendgruppen die Möglichkeit, konkret etwas zu verändern, ohne sich dauerhaft zum Beispiel einem Verein anschließen zu müssen. Man kann einfach etwas aus dem kreativen Impuls heraus verändern, ohne für alle Zeiten Feuerwehrfrau oder -mann zu sein. Es geht darum, die Erfahrung zu machen, selbst etwas bewirken zu können.

Ein wichtiger Aspekt ist auch der Dialog zwischen Politik und Bürger:innen auf allen Ebenen. Politikerinnen und Politiker sollten aktiv auf die Menschen zugehen und Fragen stellen, um den Alltag der Menschen besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Wenn zum Beispiel eine Schulklasse den Landtag hier in Sachsen besucht, soll es auf keinen Fall so ablaufen, dass die Klasse eine Frage vorbereitet und diese dann mit zitternder Stimme vorliest und sich danach eine Stunde einen Monolog von den Politiker:innen anhört, sondern dass die Abgeordneten sich den Schüler:innen zuwenden und zuhören, was in ihrem Alltag Realität ist. Eine gute Variante wäre zum Beispiel eine Mini-Lobby-Veranstaltung, bei der Politiker:innen lernen, was den Menschen wichtig ist. Anstatt des Fokus auf Selbstdarstellung, wäre es viel wichtiger, dass Bürger:innen merken, dass Politiker:innen mit Herzblut dabei sind, trotz ihrer Sachzwänge und komplexer Abwägungsprozesse.

 

Wir sprechen über politische Formate. Ihr habt als JoDDiD das sehr inspirierende “Logbuch Politische Bildung” entwickelt. Wie sollten denn Materialien für die politische Bildung für professionelle Fachkräfte als auch für Nicht-Professionelle idealerweise pädagogisch wertvoll und politisch sinnvoll gestaltet sein? 

Das erste "Logbuch Politik" wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung für junge Menschen veröffentlicht und erwies sich als eines der erfolgreichsten politischen Bildungsmaterialien. Meine Lieblingsseite darin ist eine Aufgabe zu etwas scheinbar Nutzlosem. Es ist eine großartige Aufgabe, denn sie erfordert, dass man sich Gedanken darüber macht, wann etwas wirklich nutzlos ist. Dabei wird eine bestimmte Art der Ansprache genutzt, die sehr effektiv funktioniert. Die kompakten Aufgaben bringen einen zum Nachdenken und regen Gespräche an. Endlich mal etwas sowohl für Weiterbildungsformate als auch für informelle Begegnungen, wie die Kaffeepause oder den Mittagstisch. Oft kann man mit einem Augenzwinkern agieren, aber generell hat das Projekt eine starke Wirkung.

Eine Aufgabe aus dem "Logbuch Politik" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)

Unser “Logbuch Politische Bildung” entstand dann aus der Erfahrung, dass diese Art der Ansprache gut funktioniert und dass bestimmte didaktische Strategien in die Breite getragen werden sollten. Es ist grafisch ansprechend gestaltet und vermittelt auf didaktisch anspruchsvolle Weise verschiedene politisch-bildnerische Konzepte. Manche didaktischen Strategien sind dabei nicht offensichtlich erkennbar, da es häufig Vorurteile darüber gibt, was Didaktik eigentlich bedeutet und wenig klar ist, dass es mehr ist als bloße Methodik. Das Logbuch versucht, dieses Verständnis zu erweitern.

Die Inhalte des Logbuchs wurden auf eine Art und Weise erarbeitet, die der Art der politischen Bildung entspricht, wie wir sie gerne sehen. Es werden einfach Fragen in den Raum gestellt, und der Impuls besteht oft aus einer Frage. Zum Beispiel: "Was hast Du letzte Woche für die Demokratie getan?" eine Antwortoption ist: "Ich war freundlich." Solche Antworten führen zu Irritationen, man denkt über den Begriff "Demokratie" nach und betrachtet seine Bedeutung neu. Das Logbuch dient so als Inspiration für selbstbestimmte Auseinandersetzungen mit politischer Bildung und Demokratie. Es gibt kein festgelegtes Curriculum, das von A bis Z abgearbeitet werden muss. Stattdessen wird der Fokus auf die Praxis gelegt. Es geht darum, politische Bildner:innen dabei zu unterstützen, eigene didaktische Entscheidungen zu treffen und die Theorie als Werkzeug und Grundlage für die Praxis zu nutzen.

Das Logbuch soll an vielen Stellen Brücken bauen und Menschen der politischen Bildung näherbringen. Es dient als Grundlage für unsere gesamte Arbeit bei der JoDDiD, denn wir nutzen es um unsere Angebote zu erweitern und Menschen zu zeigen, dass sie die Konzepte nicht neu erfinden müssen. Es gibt bereits viele bewährte konzeptuelle Ansätze, Erfahrungen und räumliche Arrangements, die wir nutzen können, um kreative politische Bildung zu machen, die nicht nur die üblichen Verdächtigen anspricht.

Nach dem Gespräch mit Agnes blättere ich noch weitere im “Logbuch Politische Bildung”, finde viele Fragen, die ich in zukünftigen Workshops selbst nutzen möchte, und denke, dass es doch das ist, worüber wir gesprochen haben: Wie kann politische Bildung eigentlich nützlich, hilfreich und unterstützend sein – nicht nur abstrakt für die Demokratie, sondern konkret für jede:n Einzelne:n.

About the contributor

Agnes Scharnetzky
Politische Bildnerin und Streiterin für Demokratie

Agnes Scharnetzky ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (JoDDiD). Sie hat ihr Lehramtsstudium in Geschichte/Gemeinschaftskunde an der TU Dresden absolviert und als politische Bildnerin mit Fokus auf Gedenkkultur, Zivilcourage und Demokratiearbeit unter anderem für die Aktion Zivilcourage Pirna, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und den Bund Deutscher Landjugenden gearbeitet. Darüber hinaus ist Agnes Kommunalpolitikerin im Stadtrat der Landeshauptstadt Dresden.