»Vietnamesische Vertragsarbeiter:innen-Geschichten aus Chemnitz, die nicht auf der Bühne enden« – Interview mit Frauke Wetzel (nun – neue unentd_ckte narrative) & Vũ Vân Pham (Kulturschaffende und Bildungsreferentin)

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Published
02.11.2023
Language
German
Level
Beginner
Length
19 Minutes
Categories
Intersectional Alliances, Arts, Media & Internet Activism, Community & Union Organizing
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Frauke Wetzel ist eine der wichtigsten Schlüsselpersonen, die uns in unserer Arbeit vor Ort in Chemnitz tatkräftig unterstützt. In unseren Gesprächen über zivilgesellschaftliches Engagement und antifaschistischen Aktivismus haben wir bereits häufiger aufgrund unseres geteilten Interesses für Geschichten des Alltags, das Erzählen und das Zuhören über den Spagat zwischen Kultur- und Bildungsarbeit diskutiert. Was heißt das eigentlich, politische Kulturarbeit und kulturelle Bildungsarbeit zu machen, die im wahrsten Sinne des Wortes engagiert ist? Mit Betroffenen, ihren Communities und deren Geschichten arbeitet und sich für ihre Interessen einsetzt …

Das Gespräch mit Frauke wollte ich gemeinsam mit ihrer Kollegin Vân führen, die selbst aus einer migrantischen Community kommt und mit Frauke und dem Figurentheater Chemnitz die Vor- und Nachwende-Geschichten von vietnamesischen Frauen in Chemnitz auf die Bühne und in eine Comic-App gebracht hat. Kurz bevor es losgeht, schaue ich mir den Videotrailer zu ihrem Theaterstück “So glücklich, dass Du Angst bekommst” an und frage mich, warum mich eigentlich die Präsenz “echter Menschen” – wie ich es gerne nenne – immer so bewegt, und freue mich über die sicherlich manchmal erdrückende Verantwortung zu sprechen, die die Arbeit mit marginalisierten Geschichten mit sich bringt.

Trailer zu “So glücklich, dass Du Angst bekommst” – Geschichten von vietnamesischen Frauen aus Chemnitz (Video: Die Theater Chemnitz)

 

Georg Blokus: Hallo Frauke, hallo Vân! Wer seid Ihr, was macht Ihr und wie seid Ihr dazu gekommen?

Vũ Vân Phạm: Ich heiße Vũ Vân Phạm, bin in Chemnitz aufgewachsen und bin bei der RAA Leipzig e.V. für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Freiberuflich bin ich als Kulturschaffende und antirassistische Bildungsreferentin in Projekten tätig, die sich mit vietdeutschen (DDR-Vertragsarbeiter:innen-)Geschichten, Erinnerungskultur, anti-asiatischem Rassismus, Empowerment und Community Building befassen.

Frauke Wetzel: Ich heiße Frauke Wetzel, ursprünglich bin ich Historikerin und hier in Chemnitz seit drei Jahren für den ASA-FF e.V. im Programm nun – neue unentd_ckte narrative tätig. Und da kommt eigentlich alles zusammen, was ich vorher gemacht habe. Ich bin direkt vom Theater und von der Kunsthochschule hierher gekommen, habe mit Menschen und Communities in der historisch-politischen Bildung in Gedenkstätten und im sog. Audience Development am Theater gearbeitet – und das meistens in sehr politisch aufgeladenen Kontexten.

Wir haben damals zum Beispiel das Theaterasyl ausgerufen und sind dann als Theater zum Ziel eines Brandanschlags geworden, weil wir eine Familie aus Syrien aufgenommen haben. Da habe ich dann gelernt, was ein Kulturort alles sein kann. Und so stehe ich im Endeffekt immer zwischen der historisch-politischen Bildungsarbeit auf der einen Seite und der Kulturarbeit im Theater auf der anderen Seite, wo ich quasi zwischen diesen “Gewerken”, die sich nicht immer verstehen, Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit zu leisten versuche. Und hier in unseren nun-Projekten geht es darum, Geschichten zu erzählen, die mehr Halt geben. Und so etwas kann man wiederum nur gemeinsam erarbeiten, mit Menschen aus Communities, Zivilgesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Politik, Bildung, Medien und vielen mehr.

 

Ich würde gerne zunächst mehr über die Ursprünge der Ideen für das Theaterstück “So glücklich, dass Du Angst bekommst” und die Comic-App “Glasfäden” erfahren. Wie sind diese miteinander verbundenen, aber doch unterschiedlichen Projekte mit ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen entstanden?

Frauke Wetzel: Die Idee für das Theaterstück ist von Seiten des Figurentheaters Chemnitz durch die Direktorin Gundula Hoffmann und die Dramaturgin Friederike Spindler entwickelt und vorangetrieben worden. Als Vân und ich dazugekommen sind, gab es schon eine Regisseurin und ein Grobkonzept. Aber es war auch klar, dass das Thema so komplex und sensibel ist, dass es Hilfe von außen und viel Offenheit im Prozess bedürfen würde.

Vũ Vân Phạm: Meine Rolle bestand von Anfang an stärker in der interkulturell sensiblen Beratung, der Vertrauensbildung und dem lokalen Community Building, um den individuellen Perspektiven der beteiligten Frauen, dem intensiven Recherche- und Produktionsprozess und der inhaltlichen Skriptentwicklung gerecht zu werden. Das wäre aber in der Form alleine gar nicht möglich gewesen, weil da viele Perspektiven notwendig sind, um solche Prozesse, Dynamiken und Inhalte zu beurteilen. Und im Probenprozess ist dann Ngọc Anh Phan dazugekommen, wofür ich sehr dankbar war, weil so ein enger Austausch über all diese sensiblen Fragen möglich wurde.

Davor bestand meine Arbeit mit Miriam Tscholl und Dagrun Hintze vor allem in der Durchführung von Interviews, die wegen der Corona-Pandemie mit einer großen Online-Infoveranstaltung anfangen mussten. Um die Frauen dort hinzubekommen, war viel Zeit auf Facebook und am Telefon notwendig. Sogar meine Eltern haben mir damals geholfen. Und da waren erstmal so Hürden wie “Was ist Zoom und wie funktioniert das?” zu überwinden, damit die Frauen überhaupt zu uns finden konnten.

Und dann musste natürlich auch erklärt werden, dass es dabei um ein Theaterstück geht und da stellten sich dann viele andere wichtige Fragen: “Was ist das für ein Theater?”, “Warum möchtet Ihr mit uns sprechen?”, “Warum sollen wir mitmachen?” … Und wichtig war uns dabei vor allem, dass die Frauen verstehen, dass wir nicht über sie, sondern mit ihnen sprechen möchten und sie die Protagonistinnen sein sollen. Und trotz allem sind da dann erst einmal viele Hemmungen, die manchmal mit Sprachbarrieren und dahingehend auch dem fehlenden Zugang zu Theater, Kunst und Kultur zu tun hatten, manchmal aber auch mit der simplen Frage, warum ihre persönliche Geschichte jetzt von Bedeutung sei. Das waren alles wichtige Prozesse der Vertrauensbildung, für die wir uns viel Zeit genommen haben, weil man ja dann in so einer Theaterarbeit mit Menschen in marginalisierten Positionen immer damit konfrontiert wird, wie ungleich Macht, Ressourcen und Verantwortung verteilt sind.

Von den 20 anwesenden Frauen bei der Infoveranstaltung haben sich dann ungefähr acht Frauen herauskristallisiert, mit denen wir intimere Gespräche geführt haben. Und auf Basis dieser biografischen Interviews hat das künstlerische Team dann drei Chemnitzer Frauen ausgewählt, die am Ende auf die Bühne gekommen sind: Thị Như Lâm Nguyễn, Ngọc Bích Pfaff und Thúy Nga Ðinh. Da spielten dann einerseits pragmatische und teilweise diskriminierende Faktoren wie Sprachfähigkeiten eine Rolle, andererseits aber auch die Frage, wie “speziell” die Geschichte ist. Und mit all diesen Entscheidungen, die notgedrungen nicht immer perfekt sind, mussten wir umgehen, bevor es letztlich in den Schreib- und Probenprozess ging, wo ich immer begleitend dabei war.

Thị Như Lâm Nguyễn, Ngọc Bích Pfaff und Thúy Nga Ðinh erzählen auf der Bühne über ihre Erfahrungen als Vertragsarbeiterinnen in der DDR und nach der Wende (Fotos: Dieter Wunschanski)

Frauke Wetzel: Und die Idee zur Comic-App ist dann wiederum aus unserem Team heraus entstanden, weil wir einerseits all diese öffentlich unerzählten Geschichten hatten, die nicht alle auf die Bühne konnten. Manche hatten auch selbst Angst, auf die Bühne zu gehen, und einige haben das für sich aus anderen guten Gründen ausgeschlossen. Andererseits wollten wir aber etwas produzieren, das sich auch nochmal stärker an Kinder und Jugendliche richtet und im digitalen Raum in deutscher und vietnamesischer Sprache eine andere Haltbarkeit und Reichweite hat.

Bild eines vietnamesischen Mädchens aus der Comic-App “Glasfäden – Aus dem Osten in den Osten” (Grafik: Brian Main, Causa Creations)

Frauke hatte uns als School of Transnational Organizing schon im letzten Herbst 2022 für einen nun-Workshop zur Frage “Wie Geschichten uns helfen, unsere Ohnmacht zu überwinden” für lokale Aktivist:innen, Kulturschaffende und auch Mitarbeiter:innen des Theaters eingeladen. Mir kommt, während ich den beiden zuhöre, der Gedanke, der in dem Workshop damals auch schon von den Teilnehmer:innen geäußert wurde: Ist das Geschichtenerzählen nicht auch etwas, das die Gefahr der emotionalen Manipulation birgt und woher wissen wir, was die Wahrheit ist?

Wer mich kennt, weiß, dass ich mich vehement dagegen wehre, dass wir beim Hören einer Geschichte immer einen Grund hätten, uns zu fragen, ob wir manipuliert werden. Das hat viele Gründe – und einer ist, dass ganz normale Menschen natürlich auch lügen, Dinge erfinden oder echte Märchen erzählen können, aber nicht in einen Topf geschmissen werden sollten mit Marketingagenturen, die uns versuchen etwas zu verkaufen, oder mit Politiker:innen, die Authentizität vortäuschen können, um unsere Stimme zu erhalten. Es ist schon ein glückliches Kunststück, dass gerade im Theater, der großen Illusionsmaschine, wo reale Fiktionen aus der Dramengeschichte aufgeführt werden oder dokumentarisches Material auch teilweise fiktionalisiert wird, die Frage nach der Wahrheit paradoxerweise viel leichter der Frage nach der Bedeutung weicht und durch die Worte von der Bühne einen Blick auf die Realität unserer Gesellschaft erlaubt.

 

Vân, Du hast die Nachfragen einiger Interviewpartnerinnen nach dem Wert ihrer persönlichen Geschichten erwähnt. Wie ist es für die Frauen gewesen, zu bemerken, dass sie vielleicht Jahrzehnte in diesem Land nicht gefragt oder gehört wurden und jetzt ihre Geschichten und Gefühle plötzlich einen besonderen Wert zugesprochen bekamen? Das ist ja nicht nur eine sehr intime Erfahrung der Anerkennung, sondern stellt einen ja gleichzeitig auch vor viele schwierige Fragen, wenn man Teil der Öffentlichkeit wird und auf der Bühne sozusagen für gesellschaftlich oder politisch relevant erklärt wird.

Vũ Vân Phạm: Als Person, die den Zugang zur Community hergestellt hat, fast bei allen Interviews dabei war und dann für “Glasfäden” acht Frauen, die entweder selbst schon auf der Bühne oder im Publikum dabei waren, nochmal tiefergehend interviewt hat, sah ich mich eigentlich immer wieder mit dieser Sorgee konfrontiert: “Warum soll ich das jetzt erzählen?” Und diese Frage war sehr häufig damit verbunden, welche Sorgen oder Bedenken die Person hatte, wenn auf der Bühne eine “streng vertrauliche” Geschichte erzählt würde und es sich in der Community herumsprechen könnte, dass man eventuell ein “Geheimnis ausgeplaudert” hat.

Dabei ging es zum Beispiel um illegale Arbeit nach der Wende. Einerseits weiß das ja quasi jeder, dass die Ungleichbehandlung Vietdeutsche und andere Migrant:innen häufig auf den illegalen Arbeitsmarkt gezwungen hat. Und doch ist es trotz dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe ein sehr sensibles Thema, weil man sich zum Beispiel als relativ geschlossene Community hier in Chemnitz, wo sich die meisten auch persönlich kennen, nicht angreifbar machen oder schlecht dastehen möchte. Und das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum viele Frauen sehr positiv über die DDR und über Deutsche im Allgemeinen gesprochen haben und auch viel Dankbarkeit ausgesprochen wurde. So wie es auch an einer Stelle auf der Bühne gesagt wird: „Wir lächeln, verstehen nix, machen keinen Ärger.“ Da möchte man natürlich eigentlich gerne kritisch nachhaken, es ist aber insbesondere in stark kollektivistisch geprägten Communities wichtig darauf zu achten, dass das eigene Sprechen und Handeln sehr stark aus der Perspektive der eigenen Gemeinschaft und natürlich auch der Mehrheitsgesellschaft bewertet wird.

Welche Bedeutung ich meiner Geschichte zuschreibe, hängt also von den verschiedenen Konsequenzen des Erzählens dieser Geschichte ab. Dieser Spagat zwischen dem emotionalen Wert einer Geschichte für die Öffentlichkeit und dem Schutz der Person kann nicht nur im medialen, sondern auch im theatralen Kontext problematisch sein, weil man hier ja per se einer noch direkteren voyeuristischen Situation ausgesetzt ist, die im schlimmsten Fall besondere Helden- oder Leidensgeschichten ausstellen kann. Für nicht-professionelle Protagonist:innen in dokumentarischen Theaterstücken ist das häufig kaum abschätzbar, was diese Theatermaschine mit einem machen kann. Und so kann das Erzählen einer Geschichte selbst schnell vom Glücks- ins Angstgefühl umschlagen, wo wir uns wie Figuren in den Händen eines Puppenspielers fühlen, wo unser Schicksal am seidenen Faden hängt und fremdbestimmt wird.

Und ich denke an einige Beispiele, wo ich erlebt habe, dass dieses Wissen, diese Macht und diese Verantwortung ausgenutzt wurden. Denn was wissen wir schon, wofür Menschen beschuldigt oder beschämt werden können … Schließlich kann manchen Menschen erst in diesen dramatischen Momenten der Konfrontation mit der Bedeutung von Geschichten durch andere, die ihnen nahe- oder fernsehen, schmerzhaft klar werden, dass die persönlichen Geschichten, die wir als unsere eigenen bezeichnen, in den seltensten Fällen nur uns alleine gehören oder manchmal von anderen in Besitz genommen werden können.

Frauke Wetzel: Einer der schönsten Teile dieses Projekts war der sehr berührende Rundgang mit Deiner Mutter als Teil des öffentlichen Rahmenprogramms. Aber als Du mir dann erzählt hast, dass Deine Mutter gar nicht verstanden habe, dass da Menschen wären, die alle an ihrer Geschichte interessiert seien, wenn sie ihr ehemaliges Wohnheim und ihre damalige Arbeitsstätte zeigt, fand ich das sehr bezeichnend.

Vũ Vân Phạm: Ich habe das fast vergessen, aber für mich war die Arbeit an diesem Projekt auch ein guter Vorwand, um endlich mal Fragen an meine eigenen Eltern stellen zu können. Nicht getraut haben ist vielleicht nicht die richtige Formulierung, aber es gab zumindest davor nie den richtigen Moment, um sich mal hinzusetzen und zu fragen, wie es ihnen denn eigentlich damals ergangen ist und wie es ihnen heute damit geht.

Lâm, eine der Frauen aus dem Theaterstück, kennt mich seit meiner Geburt. Ich habe sie “natürlich” nie zuvor solche Dinge gefragt. Und ich glaube, das war für die Frauen auch sehr schön. Denn auch wenn ich ihre Sprache spreche, bin ich in dem Moment trotzdem eine externe Person, die sich in einem formellen Interviewrahmen da hinsetzt und sie zu ihrem Leben befragt. Das hat mich sehr berührt, dass da so ein intimes Vertrauen spürbar war. Mein Eindruck war aber auch, dass zwischen den Protagonistinnen und der Regisseurin Miriam Tscholl ein sehr starkes, auf Empathie basierendes Vertrauensverhältnis bestand. Dadurch haben sich die Frauen, glaube ich, allgemein sehr wohl gefühlt. Und so war es auch mit dem Rest des Teams und den Mitarbeitenden des Theaters. Zwischen den drei Puppenspielerinnen Claudia Acker, Linda Fülle und Keumbyul Lim und den drei Frauen entstand dann noch eine ganz andere, sehr intime, fast familiäre Atmosphäre. 

 

Welche Rolle spielen die Beziehung und das Vertrauen, die mit den beteiligten Frauen aufgebaut wurden, wenn es um die Erzählbarkeit der Vielschichtigkeit und der allzumenschlichen Widersprüchlichkeiten von Identitäten im Falle dieser ehemaligen Vertragsarbeiterinnen geht?

Vũ Vân Phạm: Ich habe mich natürlich nie als neutrale Person gesehen, ich war immer eine Tochter der zweiten Generation. Ich hätte auch ihre eigene Tochter sein können. Und ich habe dann immer aus meiner Zweite-Generationen-Perspektive gespiegelt, wie problematisch ich zum Beispiel positive Stigmatisierung von Vietdeutschen als “Vorzeigemigrant:innen” empfinde. In “Glasfäden” steht die Frage der Intergenerationalität noch stärker im Fokus. Da musste ich dann lernen, zu ergründen und nachzufragen und die Position der ersten Generation trotzdem nicht abzusprechen und auch gelten zu lassen.

Vollständiges 30-Minuten-Video der Comic-App “Glasfäden – Aus dem Osten in den Osten” (Causa Creations Interactive Media)

 

Begleitheft zur Comic-App “Glasfäden – Aus dem Osten in den Osten” (Text: Ngoc Bich Tran unter Mitarbeit von Vũ Vân Phạm, Layout und Design: Causa Creations Interactive Media)

Zum Beispiel bei der schwierigen Thematik der quasi erzwungenen Abtreibungen gab es Frauen, die betonten, wie schlimm diese Erfahrung für sie war. Sie kannten auch Frauen, die eine Abtreibung durchgemacht hatten, und waren sich dessen bewusst, dass es sich um eine Menschenrechtsverletzung gehandelt hatte, die äußerst belastend war. Allerdings gab es auch Frauen, die meinten, dass es sich um eine “normale” Regelung gehandelt habe und dass alle vorher darüber Bescheid gewusst hätten. Diese Frauen schienen das Thema von sich weggeschoben zu haben. Es hätten nunmal Arbeits- und Lebensbedingungen geherrscht, die bestimmte Regelungen vorsahen, die eben eingehalten werden mussten. Da konnte man dann gut unterscheiden, dass manche Menschen sich stärker öffnen, und andere eher oberflächlich darüber sprechen. Beides ist völlig in Ordnung, da manche ihre Traumata nicht wiedererleben möchten, und damit sollte respektvoll und einfühlsam umgegangen werden. Es galt deshalb auch darauf zu achten, die Frauen nicht dazu zu drängen, ihre Erfahrungen preiszugeben und sich zu entblößen, wenn sie damit auch nur sich selbst schaden könnten.

 

Geschichten zu erzählen, die mehr Halt geben, darum gehe es in Eurer Arbeit, hast Du gesagt, Frauke. Und Halt entsteht in so einem Prozess nur, wenn Sicherheit empfunden wird und Misstrauen abgebaut ist, wenn Geschichten erzählbar geworden sind, wenn eine Reaktion aus dem Publikum oder der Öffentlichkeit erlebt wird, die nicht als Angriff sondern als Anerkennung empfunden wird. Gab es auch Momente, die schwierig auszuhalten waren oder wo Ihr Sorge hattet, etwas nicht halten zu können? Wo das Verhältnis zwischen Euch, dem künstlerischen Team und den beteiligten Protagonistinnen in seiner Fragilität spürbar wurde …

Frauke Wetzel: Ich denke an diese 500 Seiten aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv zur Situation vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen, die sind harter Tobak, weil man auf 500 Seiten nur Rassismus liest. Und das wird dann in einem solchen Projekt natürlich auch Thema, aber das ist dann auch wesentlicher Teil dieses Übersetzungsprozesses in einem künstlerischen Projekt. Und deshalb ist diese Szene am Ende des Theaterstücks so wichtig, wo die Töchter eben auch klarer benennen, was sie auch erleben oder was eben auch Rassismus bedeutet. Und auf mich wirkt diese Szene manchmal zu didaktisch und da frage ich mich schon, worauf wir da nicht vertraut haben.

Wenn eine Frau erzählt, dass sie zu Beginn der 1990er Jahre angefangen habe, Kampfsport zu lernen, dann ist da meistens nicht nur Fitness der Grund. Wir haben nicht vertraut, dass die kleinen Andeutungen der Frauen, z.B. dass sie Kampfsport betreiben, schon ausreichend sind, um über Rassismus, auch in der DDR zu sprechen. Den Kampfsport haben sie betrieben, um sich wehren zu können, auch gegen Rassismus. Und dann merke ich, dass wir den Geschichten alleine und ihrer Wirkung auf der Bühne nicht komplett vertraut haben, sondern immer auch den potenziell rassistischen Blick der Mehrheitsgesellschaft im Zuschauerraum antizipiert haben, dem man misstraut und den man mit allen Mitteln der Kunst zu ändern versucht. Und irgendwie verstehe ich auch die Gründe für unser Misstrauen, weil ich erst kürzlich in einer anderen Inszenierung, wo die permanente, fast unerträgliche Wiederholung rassistischer Situationen in den Reihen hinter mir Gelächter ausgelöst hat, weil da wohl Menschen saßen, die Rassismus immer noch lustig finden.

Vũ Vân Phạm: Ich musste dagegen erst einmal Sicherheit in der Sprache gewinnen. Für mich selbst war nämlich trotz der Tatsache, dass ich Vietnamesisch spreche, immer wieder meine eigene Sprachbarriere spürbar. Ich musste zum Beispiel Wörter wie DDR, Vertragsarbeit, Rassismus … zum ersten Mal nachschlagen. Neben der Sprachbarriere gab es aber auch diese Barriere der Fremdheit, wie sie allgemein existiert, wenn Menschen aufeinander treffen. Sich kennenzulernen und dann zehn Minuten später Intimes zu fragen. Das war aber auch nicht einfacher bei Frauen, die ich schon länger kannte, weil in diesen Fällen plötzlich eine neue Beziehungsebene hergestellt werden musste, die so ein Gespräch überhaupt erst erlauben würde.

 

Wie seid Ihr mit diesen fließenden Grenzen methodisch umgegangen, also zwischen dem Persönlichen, das schwer aussprechbar ist, dem Öffentlichen, das Sagbar ist, und diesem unaussprechlichen Intimen? Die Verführung kann ja groß sein, eine zu intime Geschichte, der man eine hohe öffentliche Relevanz zuspricht, wenn sie dann auch noch emotional berührend ist, für die Bühne nutzen zu wollen und damit “zu weit” zu gehen und die Person potenziell negativen Konsequenzen auszusetzen. 

Frauke Wetzel: Das Wichtigste ist, mit einer wahrhaftigen Offenheit in die Gespräch zu gehen und den Geschichten wirklich zuzuhören, wie Vân einmal gesagt hat. Die Frauen haben die Inhalte bestimmt, nicht die Theater. Und das muss man gegen die Logik eines künstlerischen Produktionsprozesses behaupten, Förderanträge, Ankündigungstexte und auch künstlerische Trends schränken ja immer auch zeitlich ein. Weil es letztendlich die Geschichten der Frauen sind. Und das ist hoch zu schätzen, dass das Theater das trotz aller institutionellen Sachzwänge auch so gesehen hat. 

Vũ Vân Phạm: Ich war aber auch sehr erleichtert, dass Dagrun Hintze für das Theaterstück und Georg Hobmeier für die Comic-App die Interviews in ein Skript übersetzt haben. Weil für mich ab einem bestimmten Punkt alle Geschichten wichtig waren und ich zu keinem Schicksal mehr eine Distanz einnehmen konnte.

Natürlich haben wir immer betont, dass – falls sie auch nachträglich merken, dass etwas für sie zu problematisch ist – sie uns immer anrufen können und wir es auf jeden Fall herausnehmen würden. Jedoch erinnere ich mich auch an eine Frau, die von ihrer schmerzhaften Erfahrung mit ihrem Sohn erzählte. Sie war erst nach der Wende nach Deutschland gekommen, konnte ihren Sohn jedoch nicht mitnehmen, weshalb er bis heute immer noch in Vietnam lebt. Hier in Deutschland fühlt sie sich seitdem sehr einsam. In einigen Momenten hat sie auch geweint, und ich wusste sofort, dass wir das, obwohl es eine sehr berührende Geschichte war, nicht hineinnehmen sollten. Ich denke, in solchen Fällen haben wir einfach viel auf unser Bauchgefühl vertraut.

In Gedanken vermute ich, dass die Geschichte auf Vietnamesisch erzählt worden sein muss und dass diese Verletzlichkeit, die in der Geschichte dieser Frau spürbar geworden ist, wahrscheinlich nicht so leicht auf Deutsch hätte ausgedrückt werden können. Wir fühlen uns in einer Sprache nicht nur wohl oder unwohl, Sprache wird häufig ja auch als Heimat empfunden, an die wir gebunden sind. Und manche Erfahrungen, Gefühle und Geschichten sind wahrscheinlich kaum affektiv übersetzbar und nachvollziehbar zu machen, wenn sie nicht mehr mit der Herkunfts- oder Heimatsprache verbunden sind. Das kann zu sehr intimen Erfahrungen des Eingeschränkt-, Ausgeschlossen- und Verwundbar-Seins führen, die uns unsere Stimme verlieren lassen. Und trotzdem kann das Erzählen von migrantischen Geschichten in der Fremd- oder Zweitsprache auch eine besondere Erfahrung der Selbstermächtigung und des Stolzes darstellen.

 

Welche Rolle spielt Eurer Erfahrung nach für Menschen mit Migrationsgeschichte, etwas nicht in ihrer eigenen Muttersprache zu erzählen? 

Vũ Vân Phạm: Zunächst muss gesagt werden, dass es sich auf der Bühne um drei Frauen handelte, die Deutsch recht gut beherrschen, möglicherweise sogar am besten von allen, die wir interviewt haben. Allerdings gibt es auch Passagen, in denen sie Vietnamesisch sprechen. Für beide Sprachen haben wir Untertitel gehabt, damit alle Zuschauer:innen das Gesprochene jederzeit verstehen konnten.

Frauke Wetzel: Wir haben uns aber irgendwann nach einer Vorstellungen lange darüber unterhalten, wohin die Zuschauer:innen eigentlich schauen, und ich glaube persönlich, niemand schaut auf die Untertitel. Dieses Zeichen, dass wir das bedenken und das Theater dafür auch Geld in die Hand nehmen, bedeutet aber viel. Das schafft ja auch ein anderes Publikum. Und da musste dann teilweise auch das Theater viele neue Wege innerhalb seiner eigenen Öffentlichkeitsarbeitsabteilung gehen, um die Ankündigung auf der Webseite auch auf Vietnamesisch zu veröffentlichen. Das haben wir dann auch als Anlass genommen, unsere nun-Webseite auch auf Vietnamesisch zu übersetzen.

Vũ Vân Phạm: In “Glasfäden” gibt es diesen Moment, wo Ngọc Anh, eine Tochter der zweiten Generation, ins Vietnamesische switcht, als sie über ihre Eltern und die besondere “Love Language”, die sie mit ihnen teilt, spricht. Dieser Moment findet auch im Alltag ausschließlich auf Vietnamesisch statt. Bei den Protagonistinnen im Theaterstück war es tatsächlich auch so, dass sie es bevorzugten, mit mir auf Vietnamesisch zu sprechen, und ich dann für die anderen ins Deutsche übersetzte. Durch die intensive Zusammenarbeit mit Miriam Tscholl wurde schließlich doch mehr auf Deutsch gesprochen. Dadurch konnten sie sich bereits darauf einstellen, bevor sie auf die Bühne mussten.

Frauke Wetzel: Und doch erinnere ich mich noch an die Worte von Christian, selbst ein Kind von Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam,der nach einer vorab Sichtung des Stückes mit anschließender Fokusgruppenbefragung, die wir von nun für das Theater organisiert haben, wie schön es sei, seine Muttersprache auf der Bühne zu hören. 

 

Warum heißt es eigentlich “So glücklich, dass Du Angst bekommst” und “Glasfäden”?

Frauke Wetzel: "Glasfäden" hieß eigentlich, und wir haben das Theaterstück tatsächlich zuerst auch so genannt, "Wir sind auch das Volk!". Das mussten wir dann aber ändern, weil eine App nur einen Ein-Wort-Titel haben kann. Die Bedeutung von Glasfäden bezieht sich letztlich auf die fragile Lebenssituation ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen, aber natürlich auch auf Nudeln und Fäden.

Bild einer vietnamesischen Frau aus der “Glasfäden – Aus dem Osten in den Osten” Comic-App (Grafik: Brian Main, Causa Creations)

Vũ Vân Phạm: “So glücklich, dass Du Angst bekommst” ist eine Passage aus dem Theaterstück, wo eine der Frauen erzählt, wie gut es ihr nach der Wende ergangen sei, als sie ein Kind, eine Wohnung und eine Arbeit bekommen hat, und sich so glücklich gefühlt habe, dass sie Angst bekommen hat. Ich weiß nicht, ob das schon die Zeit war, als diese Bleiberechtsregelung bereits galt. Die Regelung kam ja erst so um 1997. Und ich glaube, dieses Gefühl der Unsicherheit begleitet einige ehemalige Vertragsarbeiter:innen bis heute, auch die Frage, was sie tun sollen, wenn sie in Rente gehen. Sollten sie hier in ein Altersheim gehen und darauf vertrauen, dass sich ihre Kinder um sie kümmern oder sollten sie zurück nach Vietnam gehen? Es gibt also immer noch Momente der Unsicherheit. Dies erleben wir gerade ganz aktuell am Beispiel von Phạm Phi Sơn und seiner Familie.

 

Was hat diese gegenwärtige Geschichte von Herrn Phạm und seiner Familie mit dem zu tun, wovon Eure beiden Projekte handeln?

Vũ Vân Phạm: Herr Phạm hat 35 Jahre hier gearbeitet und gelebt. Er hat gearbeitet, er hat etwas geleistet und deswegen muss er bleiben dürfen - so ist oft die Erklärung dafür, warum es Menschen verdient haben hier zu sein. Aber Herr Phạm muss nicht nur bleiben, weil er hier Steuern gezahlt hat, sondern weil er auch einfach ein Teil dieser Gesellschaft ist.

Denn Menschen, die hergekommen sind, waren nicht nur Arbeitstiere, nicht nur fleißige, stille und pflichtbewusste Arbeitskräfte, sondern auch sie sind Menschen mit Rechten, die nicht nur geduldet werden sollten. Und sie haben auch nach der Wende immer noch eine Geschichte. Bis heute sind ihre Kinder hier, einige haben schon Urenkel. Und wie es Herrn Phạm trifft, hätte es theoretisch auch meine Eltern oder andere aus der Community genauso treffen können.

Frauke Wetzel: Ich finde das einfach skandalös. Und wenn wir dafür Aufmerksamkeit bekommen können, weil wir tatsächlich vietnamesische Geschichten aus Chemnitz erzählen, und beide Projekte den Sächsischen Preis für Kulturelle Bildung “Kultur.LEBT.Demokratie” erhalten, dann müssen wir hier mit Herrn Phạm solidarisch sein. Denn wir haben von Anfang an gesagt, dass es nicht bei dem endet, was auf der Bühne passiert.

Preisverleihung des Sächsischen Preises für Kulturelle Bildung mit den beteiligten vietnamesischen Frauen und Herrn Phạm (Fotos: Isabell Scheithauer)

Und ich möchte mir nicht vorstellen, was das mit den Leuten hier macht, die ebenfalls schon lange hier leben und plötzlich Angst haben müssen, nicht einmal von einer Härtefallkommission als solche anerkannt zu werden, wenn sie nach Vietnam fahren und zurückkommen. Es ist für alle so offensichtlich, und ich hoffe sehr, dass er und seine Familie jetzt in Berlin von der Härtefallkommission anerkannt werden.

Weil das doch wieder so ein sächsisches Ding ist, was mich einfach nur nervt. Aber ein Demokratiepreis des Freistaates Sachsen reicht dafür als Entschädigung nicht, es muss einfach mehr Öffentlichkeit für noch mehr solcher Geschichten geben und wirkliche Hilfe und gerechte Entscheidungen für Menschen wie Herrn Phạm. Denn wenn es um diese Geschichten geht, geht es nicht um migrantischen Kitsch, wie manche vielleicht denken, sondern es gilt: “Das Private ist politisch.”

About the contributors

Frauke Wetzel
Community-Arbeit, Erinnerungsarbeit, Historisch-politische Bildung & Kulturmanagement bei ASA-FF e.V. & nun – neue unentd_ckte narrative

Nach ihrem Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Theresienstadt studierte Frauke Wetzel (sie/ihr) an der Europa-Universität Viadrina, Brno und Bordeaux Kulturwissenschaften. Frauke Wetzel arbeitete unter anderem für das Goethe-Institut, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Universität Passau, Brücke/Most-Stiftung und HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste. Von 2007 bis 2009 war Frauke Wetzel als Robert Bosch Kulturmanagerin beim Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem beschäftigt. Seit 2020 arbeitet sie in der Beratung und Begleitung von Kulturproduktionen und Netzwerkprojekten in Chemnitz im Programm nun – neue unentd_ckte narrative des ASA-FF e.V.

Vũ Vân Pham
RAA Leipzig e.V. & Freiberufliche Kulturschaffende und Bildungsreferentin mit dem Fokus auf viet-ostdeutsche Lebensrealitäten, Aufarbeitung und Erinnerungskultur und anti-asiatischen Rassismus

Vũ Vân Phạm (sie/ihr) ist in Chemnitz aufgewachsen und hat dort lange Zeit gelebt und studiert. Derzeit lebt sie in Leipzig und ist bei der RAA Leipzig e.V. als Öffentlichkeitsarbeit tätig. Ihr Herz brennt aber für die Freiberuflichkeit, in der sie als Kulturschaffende und antirassistische Bildungsreferentin in Projekten tätig ist, die sich mit viet-ostdeutschen Lebensrealitäten, Aufarbeitung und Erinnerungskultur, anti-asiatischen Rassismus und Community Building befassen.