Ich würde gerne zunächst mehr über die Ursprünge der Ideen für das Theaterstück “So glücklich, dass Du Angst bekommst” und die Comic-App “Glasfäden” erfahren. Wie sind diese miteinander verbundenen, aber doch unterschiedlichen Projekte mit ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen entstanden?
Frauke Wetzel: Die Idee für das Theaterstück ist von Seiten des Figurentheaters Chemnitz durch die Direktorin Gundula Hoffmann und die Dramaturgin Friederike Spindler entwickelt und vorangetrieben worden. Als Vân und ich dazugekommen sind, gab es schon eine Regisseurin und ein Grobkonzept. Aber es war auch klar, dass das Thema so komplex und sensibel ist, dass es Hilfe von außen und viel Offenheit im Prozess bedürfen würde.
Vũ Vân Phạm: Meine Rolle bestand von Anfang an stärker in der interkulturell sensiblen Beratung, der Vertrauensbildung und dem lokalen Community Building, um den individuellen Perspektiven der beteiligten Frauen, dem intensiven Recherche- und Produktionsprozess und der inhaltlichen Skriptentwicklung gerecht zu werden. Das wäre aber in der Form alleine gar nicht möglich gewesen, weil da viele Perspektiven notwendig sind, um solche Prozesse, Dynamiken und Inhalte zu beurteilen. Und im Probenprozess ist dann Ngọc Anh Phan dazugekommen, wofür ich sehr dankbar war, weil so ein enger Austausch über all diese sensiblen Fragen möglich wurde.
Davor bestand meine Arbeit mit Miriam Tscholl und Dagrun Hintze vor allem in der Durchführung von Interviews, die wegen der Corona-Pandemie mit einer großen Online-Infoveranstaltung anfangen mussten. Um die Frauen dort hinzubekommen, war viel Zeit auf Facebook und am Telefon notwendig. Sogar meine Eltern haben mir damals geholfen. Und da waren erstmal so Hürden wie “Was ist Zoom und wie funktioniert das?” zu überwinden, damit die Frauen überhaupt zu uns finden konnten.
Und dann musste natürlich auch erklärt werden, dass es dabei um ein Theaterstück geht und da stellten sich dann viele andere wichtige Fragen: “Was ist das für ein Theater?”, “Warum möchtet Ihr mit uns sprechen?”, “Warum sollen wir mitmachen?” … Und wichtig war uns dabei vor allem, dass die Frauen verstehen, dass wir nicht über sie, sondern mit ihnen sprechen möchten und sie die Protagonistinnen sein sollen. Und trotz allem sind da dann erst einmal viele Hemmungen, die manchmal mit Sprachbarrieren und dahingehend auch dem fehlenden Zugang zu Theater, Kunst und Kultur zu tun hatten, manchmal aber auch mit der simplen Frage, warum ihre persönliche Geschichte jetzt von Bedeutung sei. Das waren alles wichtige Prozesse der Vertrauensbildung, für die wir uns viel Zeit genommen haben, weil man ja dann in so einer Theaterarbeit mit Menschen in marginalisierten Positionen immer damit konfrontiert wird, wie ungleich Macht, Ressourcen und Verantwortung verteilt sind.
Von den 20 anwesenden Frauen bei der Infoveranstaltung haben sich dann ungefähr acht Frauen herauskristallisiert, mit denen wir intimere Gespräche geführt haben. Und auf Basis dieser biografischen Interviews hat das künstlerische Team dann drei Chemnitzer Frauen ausgewählt, die am Ende auf die Bühne gekommen sind: Thị Như Lâm Nguyễn, Ngọc Bích Pfaff und Thúy Nga Ðinh. Da spielten dann einerseits pragmatische und teilweise diskriminierende Faktoren wie Sprachfähigkeiten eine Rolle, andererseits aber auch die Frage, wie “speziell” die Geschichte ist. Und mit all diesen Entscheidungen, die notgedrungen nicht immer perfekt sind, mussten wir umgehen, bevor es letztlich in den Schreib- und Probenprozess ging, wo ich immer begleitend dabei war.
Thị Như Lâm Nguyễn, Ngọc Bích Pfaff und Thúy Nga Ðinh erzählen auf der Bühne über ihre Erfahrungen als Vertragsarbeiterinnen in der DDR und nach der Wende (Fotos: Dieter Wunschanski)
Frauke Wetzel: Und die Idee zur Comic-App ist dann wiederum aus unserem Team heraus entstanden, weil wir einerseits all diese öffentlich unerzählten Geschichten hatten, die nicht alle auf die Bühne konnten. Manche hatten auch selbst Angst, auf die Bühne zu gehen, und einige haben das für sich aus anderen guten Gründen ausgeschlossen. Andererseits wollten wir aber etwas produzieren, das sich auch nochmal stärker an Kinder und Jugendliche richtet und im digitalen Raum in deutscher und vietnamesischer Sprache eine andere Haltbarkeit und Reichweite hat.
Bild eines vietnamesischen Mädchens aus der Comic-App “Glasfäden – Aus dem Osten in den Osten” (Grafik: Brian Main, Causa Creations)
Frauke hatte uns als School of Transnational Organizing schon im letzten Herbst 2022 für einen nun-Workshop zur Frage “Wie Geschichten uns helfen, unsere Ohnmacht zu überwinden” für lokale Aktivist:innen, Kulturschaffende und auch Mitarbeiter:innen des Theaters eingeladen. Mir kommt, während ich den beiden zuhöre, der Gedanke, der in dem Workshop damals auch schon von den Teilnehmer:innen geäußert wurde: Ist das Geschichtenerzählen nicht auch etwas, das die Gefahr der emotionalen Manipulation birgt und woher wissen wir, was die Wahrheit ist?
Wer mich kennt, weiß, dass ich mich vehement dagegen wehre, dass wir beim Hören einer Geschichte immer einen Grund hätten, uns zu fragen, ob wir manipuliert werden. Das hat viele Gründe – und einer ist, dass ganz normale Menschen natürlich auch lügen, Dinge erfinden oder echte Märchen erzählen können, aber nicht in einen Topf geschmissen werden sollten mit Marketingagenturen, die uns versuchen etwas zu verkaufen, oder mit Politiker:innen, die Authentizität vortäuschen können, um unsere Stimme zu erhalten. Es ist schon ein glückliches Kunststück, dass gerade im Theater, der großen Illusionsmaschine, wo reale Fiktionen aus der Dramengeschichte aufgeführt werden oder dokumentarisches Material auch teilweise fiktionalisiert wird, die Frage nach der Wahrheit paradoxerweise viel leichter der Frage nach der Bedeutung weicht und durch die Worte von der Bühne einen Blick auf die Realität unserer Gesellschaft erlaubt.
Vân, Du hast die Nachfragen einiger Interviewpartnerinnen nach dem Wert ihrer persönlichen Geschichten erwähnt. Wie ist es für die Frauen gewesen, zu bemerken, dass sie vielleicht Jahrzehnte in diesem Land nicht gefragt oder gehört wurden und jetzt ihre Geschichten und Gefühle plötzlich einen besonderen Wert zugesprochen bekamen? Das ist ja nicht nur eine sehr intime Erfahrung der Anerkennung, sondern stellt einen ja gleichzeitig auch vor viele schwierige Fragen, wenn man Teil der Öffentlichkeit wird und auf der Bühne sozusagen für gesellschaftlich oder politisch relevant erklärt wird.
Vũ Vân Phạm: Als Person, die den Zugang zur Community hergestellt hat, fast bei allen Interviews dabei war und dann für “Glasfäden” acht Frauen, die entweder selbst schon auf der Bühne oder im Publikum dabei waren, nochmal tiefergehend interviewt hat, sah ich mich eigentlich immer wieder mit dieser Sorgee konfrontiert: “Warum soll ich das jetzt erzählen?” Und diese Frage war sehr häufig damit verbunden, welche Sorgen oder Bedenken die Person hatte, wenn auf der Bühne eine “streng vertrauliche” Geschichte erzählt würde und es sich in der Community herumsprechen könnte, dass man eventuell ein “Geheimnis ausgeplaudert” hat.
Dabei ging es zum Beispiel um illegale Arbeit nach der Wende. Einerseits weiß das ja quasi jeder, dass die Ungleichbehandlung Vietdeutsche und andere Migrant:innen häufig auf den illegalen Arbeitsmarkt gezwungen hat. Und doch ist es trotz dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe ein sehr sensibles Thema, weil man sich zum Beispiel als relativ geschlossene Community hier in Chemnitz, wo sich die meisten auch persönlich kennen, nicht angreifbar machen oder schlecht dastehen möchte. Und das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum viele Frauen sehr positiv über die DDR und über Deutsche im Allgemeinen gesprochen haben und auch viel Dankbarkeit ausgesprochen wurde. So wie es auch an einer Stelle auf der Bühne gesagt wird: „Wir lächeln, verstehen nix, machen keinen Ärger.“ Da möchte man natürlich eigentlich gerne kritisch nachhaken, es ist aber insbesondere in stark kollektivistisch geprägten Communities wichtig darauf zu achten, dass das eigene Sprechen und Handeln sehr stark aus der Perspektive der eigenen Gemeinschaft und natürlich auch der Mehrheitsgesellschaft bewertet wird.
Welche Bedeutung ich meiner Geschichte zuschreibe, hängt also von den verschiedenen Konsequenzen des Erzählens dieser Geschichte ab. Dieser Spagat zwischen dem emotionalen Wert einer Geschichte für die Öffentlichkeit und dem Schutz der Person kann nicht nur im medialen, sondern auch im theatralen Kontext problematisch sein, weil man hier ja per se einer noch direkteren voyeuristischen Situation ausgesetzt ist, die im schlimmsten Fall besondere Helden- oder Leidensgeschichten ausstellen kann. Für nicht-professionelle Protagonist:innen in dokumentarischen Theaterstücken ist das häufig kaum abschätzbar, was diese Theatermaschine mit einem machen kann. Und so kann das Erzählen einer Geschichte selbst schnell vom Glücks- ins Angstgefühl umschlagen, wo wir uns wie Figuren in den Händen eines Puppenspielers fühlen, wo unser Schicksal am seidenen Faden hängt und fremdbestimmt wird.
Und ich denke an einige Beispiele, wo ich erlebt habe, dass dieses Wissen, diese Macht und diese Verantwortung ausgenutzt wurden. Denn was wissen wir schon, wofür Menschen beschuldigt oder beschämt werden können … Schließlich kann manchen Menschen erst in diesen dramatischen Momenten der Konfrontation mit der Bedeutung von Geschichten durch andere, die ihnen nahe- oder fernsehen, schmerzhaft klar werden, dass die persönlichen Geschichten, die wir als unsere eigenen bezeichnen, in den seltensten Fällen nur uns alleine gehören oder manchmal von anderen in Besitz genommen werden können.
Frauke Wetzel: Einer der schönsten Teile dieses Projekts war der sehr berührende Rundgang mit Deiner Mutter als Teil des öffentlichen Rahmenprogramms. Aber als Du mir dann erzählt hast, dass Deine Mutter gar nicht verstanden habe, dass da Menschen wären, die alle an ihrer Geschichte interessiert seien, wenn sie ihr ehemaliges Wohnheim und ihre damalige Arbeitsstätte zeigt, fand ich das sehr bezeichnend.
Vũ Vân Phạm: Ich habe das fast vergessen, aber für mich war die Arbeit an diesem Projekt auch ein guter Vorwand, um endlich mal Fragen an meine eigenen Eltern stellen zu können. Nicht getraut haben ist vielleicht nicht die richtige Formulierung, aber es gab zumindest davor nie den richtigen Moment, um sich mal hinzusetzen und zu fragen, wie es ihnen denn eigentlich damals ergangen ist und wie es ihnen heute damit geht.
Lâm, eine der Frauen aus dem Theaterstück, kennt mich seit meiner Geburt. Ich habe sie “natürlich” nie zuvor solche Dinge gefragt. Und ich glaube, das war für die Frauen auch sehr schön. Denn auch wenn ich ihre Sprache spreche, bin ich in dem Moment trotzdem eine externe Person, die sich in einem formellen Interviewrahmen da hinsetzt und sie zu ihrem Leben befragt. Das hat mich sehr berührt, dass da so ein intimes Vertrauen spürbar war. Mein Eindruck war aber auch, dass zwischen den Protagonistinnen und der Regisseurin Miriam Tscholl ein sehr starkes, auf Empathie basierendes Vertrauensverhältnis bestand. Dadurch haben sich die Frauen, glaube ich, allgemein sehr wohl gefühlt. Und so war es auch mit dem Rest des Teams und den Mitarbeitenden des Theaters. Zwischen den drei Puppenspielerinnen Claudia Acker, Linda Fülle und Keumbyul Lim und den drei Frauen entstand dann noch eine ganz andere, sehr intime, fast familiäre Atmosphäre.
Welche Rolle spielen die Beziehung und das Vertrauen, die mit den beteiligten Frauen aufgebaut wurden, wenn es um die Erzählbarkeit der Vielschichtigkeit und der allzumenschlichen Widersprüchlichkeiten von Identitäten im Falle dieser ehemaligen Vertragsarbeiterinnen geht?
Vũ Vân Phạm: Ich habe mich natürlich nie als neutrale Person gesehen, ich war immer eine Tochter der zweiten Generation. Ich hätte auch ihre eigene Tochter sein können. Und ich habe dann immer aus meiner Zweite-Generationen-Perspektive gespiegelt, wie problematisch ich zum Beispiel positive Stigmatisierung von Vietdeutschen als “Vorzeigemigrant:innen” empfinde. In “Glasfäden” steht die Frage der Intergenerationalität noch stärker im Fokus. Da musste ich dann lernen, zu ergründen und nachzufragen und die Position der ersten Generation trotzdem nicht abzusprechen und auch gelten zu lassen.