»Retelling oder: Zuhören und Erzählen als politische Bildungspraxis« – Interview mit Zeran Osman (Offener Prozess & re:member the future)

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Published
14.11.2023
Language
German
Level
Beginner
Length
19 Minutes
Categories
Intersectional Alliances, Arts, Media & Internet Activism, Community & Union Organizing
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Zeran Osman war eine der ersten Personen, die wir in Chemnitz getroffen haben. Sie hat uns den “Sonnenberg” gezeigt, das bekannte Chemnitzer Stadtviertel, wo Migrant:innen Tür an Tür mit Student:innen und Alteingesessenen leben. Sie hat uns über die Diskriminierung und manchmal auch Angriffe erzählt, die Migrant:innen hier fürchten müssen. Und sie – selbst eine Migrantin – hat mit uns geteilt, warum sie trotz allem hier auf dem Sonnenberg, in Chemnitz, in Sachsen leben möchte.

Kurz vor unserem Interview scrolle ich über die Webseite von “Offener Prozess”, der Wanderausstellung zur Aufarbeitung des NSU und der Geschichten der Betroffenen. Ich erinnere mich an meine bleibenden Eindrücke, als ich im Berliner Maxim Gorki Theater selbst Zeuge der bewegenden Geschichten und bewegten Bilder geworden bin. Und ich erinnere mich an die Fragen, die sich mir gestellt haben, die ich jetzt Zeran stellen möchte, vor allem: Was heißt es diese migrantischen Erfahrungen von Gewalt und die Geschichten der Ausgrenzung zu erzählen und wie sähe eine politische Bildung von unten aus, die von diesen Erfahrungen, Geschichten und Menschen ausgeht.

 

Georg Blokus: Hallo Zeran, wer bist Du, was machst Du und wie bist Du eigentlich dazu gekommen?

Zeran Osman: Ich heiße Zeran Osman, bin vor neun Jahren zum Studium hier nach Chemnitz gekommen und wohne seitdem hier. 2021 wurde ich dann gefragt, ob ich bei “Offener Prozess” als Ausstellungsleitung mitarbeiten möchte. Offener Prozess ist ein Projekt oder besser eine Wanderausstellung zur Aufarbeitung des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Sachsen aus der Perspektive der Betroffenen. Gleichzeitig helfe ich bei “re:member the future” mit, einem Projekt, das sich dem Kampf für einen Gedenk- und Erinnerungsort in Chemnitz für die Betroffenen des NSU-Komplexes verschrieben hat.

Trailer zur Wanderausstellung Offener Prozess


Könntest Du uns mehr darüber erzählen, was die Vorgeschichte von “Offener Prozess” ist, wie die Wanderausstellung entwickelt wurde und warum daraus jetzt “re:member the future” entstanden ist?

Die Ausstellung ist entstanden im Rahmen der NSU-Aufarbeitung in Sachsen unter der Leitung von Hannah Zimmermann und Jörg Buschmann entstanden. Das Kurator:innenteam Ayşe Güleç und Fritz Laszlo Weber hat das künstlerische, gestalterische und kuratorische Konzept der Ausstellung entwickelt.

Wichtig war von Beginn an, dass, wenn es um den NSU-Komplex geht, meistens die Täter:innen im Fokus standen und nicht die Betroffenen, nicht die Opfer, nicht die Angehörigen. Die Wanderausstellung, die wir entwickelt haben, versucht das zu ändern, indem wir mit Betroffenen zusammengearbeitet haben, um ihre Perspektiven, Migrationsgeschichten und Rassismuserfahrungen in all ihrer Komplexität sichtbar und emotional erfahrbar zu machen, um so eine andere Aufarbeitung zu ermöglichen.

Das heißt dann natürlich auch, diesen Menschen, die hier teilweise seit Generationen in diesem Land leben, eine Stimme zu geben, um auch gehört zu werden, weil ihnen diese Stimme viel zu häufig genommen wird. Und neben der Ausstellung versuchen wir dem mit verschiedenen dialogischen politischen Bildungsformaten und zum Beispiel auch einem Methodenhandbuch für die Arbeit mit Schüler:innen zu ergänzen, um die Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen und sehr emotionalen Thema mit Begegnung, Austausch, Vernetzung und Archivierung zu begleiten.

Interview mit Hannah Zimmermann zur Ausstellung “Offener Prozess” im Rahmen der Reihe “Einfach gut gemacht” von John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (Quelle: JoDDiD Forschungsstelle)

“Vom Lernen und Verlernen” – Methodenhandbuch zur rassismuskritischen Aufarbeitung des NSU-Komplex (Autorinnen: Hannah Zimmermann in Zusammenarbeit mit Martina Klaus)

Aus dieser Arbeit ist dann “re:member the future” entstanden, weil dieser Ort ein lebendiges Gedenken und Erinnern an die Opfer und für die Betroffenen ermöglichen soll, das über eine Ausstellung hinausgeht. Dafür erstellen wir gerade ein Konzept, führen Gespräche mit Hinterbliebenen und Angehörigen der Anschläge und versuchen herauszufinden, wie ein solcher sozialer Erinnerungsort für sie aussehen sollte. Und irgendwann muss dieses Konzept dann von der Chemnitzer Stadtpolitik auch umgesetzt werden …

 

Wie arbeitet Ihr in diesen Gesprächen und wie seid Ihr mit den Betroffenen in Kontakt gekommen?

Mit meinen Kolleg:innen haben wir schlichtweg zuerst einen Brief verfasst, um das Projekt und die Idee den Angehörigen vorzustellen und sie zu fragen, ob sie zu einem Gespräch bereit wären. Die Reaktionen darauf waren natürlich sehr gemischt, weil das Thema für viele sehr belastend ist. Einige haben sich deshalb auch aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, andere stehen für Gespräche bereit. Einige – viele Kinder der Hinterbliebenen – gehen wiederum aktiv in die Öffentlichkeit und leisten großartige, politisch engagierte Bildungsarbeit.

Im Zuge des NSU-Komplexes und infolge neuer rassistischer Anschläge bilden sich aber auch immer mehr Netzwerke in Deutschland, um die antirassistischen Kämpfe zu bündeln. Einige dieser Initiativen und Gruppen haben wir besucht und mit anderen haben wir online gesprochen. Und da haben wir Interviews geführt, um zu fragen, was sie sich vorstellen, was sie gerne möchten und was sie nicht möchten, und ob sie überhaupt daran interessiert sind. Es ist wichtig, die Anliegen und Wünsche möglichst breit zu verstehen, da antirassistische Kämpfe und migrantische Selbstorganisierung ja nicht erst gestern begonnen haben.

 

Was sind denn die Wünsche und Forderungen, die Euch jetzt in diesem Prozess begegnet sind? 

Sie sind einerseits sehr divers und heterogen, aber alle vereint die Betonung der Notwendigkeit von politischer Bildungsarbeit, dass natürlich die Opfer und der NSU-Komplex nicht vergessen und junge Menschen dafür sensibilisiert werden können. Einerseits ist der NSU-Komplex nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt und andererseits haben viele junge Menschen die Taten nicht mehr im Gedächtnis.

Auch die jüngeren Anschläge in Hanau und Halle zeigen eine Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland. Um dieser Kontinuität und der fortlaufenden Notwendigkeit des Erinnerns gerecht zu werden, sollte der Erinnerungsort dynamisch und interaktiv sein, und nicht einfach nur da stehen. Und deshalb heißt es auch “re:member the future”, weil das Erinnern immer auch das Verändern beinhaltet und in eine Zukunft getragen werden muss, damit sich die Ereignisse und die Traumata nicht wiederholen.

 

Wie reagieren denn Schüler:innen und junge Menschen eigentlich auf Eure Wanderausstellung “Offener Prozess”? 

Es kommt einerseits darauf an, ob sie selbst von Rassismus oder Diskriminierung betroffen sind oder nicht. Wir haben das Gefühl, dass das Thema für einige immer schwerer greifbar wird. Die Ausstellungswerke laden deshalb dazu ein, sich nicht nur auf die einzelnen Taten zu fokussieren, sondern auch auf migrantische Erzählungen und Perspektiven von Betroffenen. Das löst bei vielen tiefe emotionale Reaktionen aus. Einige stellen Bezüge zu ihren eigenen Diskriminierungserfahrungen her, weil sie die Ausstellung als einen “safer space” erleben.

Andererseits ist aber auch wichtig, dass der NSU-Komplex nicht nur Personen betrifft, die Rassismus erleben, sondern auch eine große Rolle in Bezug auf Antisemitismus und die Diskriminierung von Sinti:zze und Rom:nja, aber auch bei Gewalt gegen Linke und queere Menschen spielt. Es handelt sich um eine menschenverachtende Ideologie, die viele Menschen betrifft, und nur weil man von Rassismus betroffen ist, bedeutet das nicht notgedrungen, dass man nicht anderweitig selbst Teil von rassistischen und diskriminierenden Strukturen sein kann.

Und wenn sie gemeinsam die Ausstellungswerke betrachten, haben sie die Möglichkeit, das Gesehene und ihre eigenen vielschichtigen Erfahrungen aufzuarbeiten. Das ist ein wichtiger Faktor, denn viele können sich darin wiedererkennen, andere nicht, aber es bietet den Raum, um zusammenzukommen und darüber zu sprechen.

Insbesondere in der politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen erscheint mir der Mangel an Gefühlsarbeit immer wieder eklatant. Wo gibt es diese Räume, in denen diese politische Gefühlsarbeit ermöglicht wird und Ambiguitäten und Widersprüche ausgehalten und ausgehandelt werden können.

 

Dieses Wiedererkennen in den Geschichten kann ja sehr doppeldeutig sein. Einerseits bedeutet es, dass man sich als potenzielles Opfer identifiziert, andererseits erfährt man, dass man überhaupt gesehen und in der eigenen Erfahrung anerkannt wird. In der "almanisierten" politischen Bildungsarbeit gibt es manchmal eine Tendenz zur Emotionslosigkeit und reinen Beschränkungen auf Daten, Fakten und Argumente. Was glaubst Du, was junge Menschen mit Rassismuserfahrung und Migrationsgeschichte eigentlich bewegt?

Wenn Gleichaltrige ihre eigenen Geschichten erzählen, wie es zum Beispiel ist, als Kind von Vertragsarbeitenden in Ostsachsen aufzuwachsen, schafft das eine besondere Nähe und Intimität. Und es geht auch darum, Identität zu verhandeln – Fragen wie "Wo komme ich her?", "Wo kommen meine Eltern her?", "Wo wachse ich auf?" kommen dann auf. Während die ankommenden Generationen, also die Vertragsarbeiter:innen in der DDR und die Gastarbeiter:innen in der BRD, eher damit beschäftigt waren, hier anzukommen, haben die jüngeren Generationen mehr Kraft oder mehr Möglichkeiten, sich auch dem Rassismus entgegenzustellen. Da geht es viel um Identitätspolitik, aber Identität ist keine starre Angelegenheit. Sie fließt ständig und verändert sich immer wieder, weshalb sie auch immer wieder verhandelt werden will.

Dies zeigt sich auch in der Ausstellung, wo eine Arbeit von Želimir Žilnik aus den siebziger Jahren Vertragsarbeiter:innen zeigt, die im Treppenhaus in München erzählen, wie ihre Lebensrealität aussieht. Im Jahr 2021 haben wir als Projekt gemeinsam mit der Künstlerin Pınar Öğrenci diese Thematik in Chemnitz aufgegriffen, wo ich mitgespielt habe, um zu sehen, wie es heute bei migrantischen Personen in Deutschland aussieht. Es ist interessant, solche vergleichende Perspektiven zu sehen.

Bilder von Wanderausstellung “Offener Prozess. NSU-Aufarbeitung in Sachsen” in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (Fotos: Alexandra Ivanciu)

Ich muss daran denken, dass ich es immer wieder als bedrückend empfunden habe, wenn Gastarbeiter:innen der ersten Generation nach ihren Rassismuserfahrungen gefragt wurden und die Antwort häufig lautete: "Nein, Rassismus habe ich nicht so schlimm erlebt." Wenn man dann aber genauer nachfragt und konkrete Alltagssituationen anspricht, zum Beispiel am Arbeitsplatz, dann wurden sehr wohl krasse Ungerechtigkeiten benannt, dass sie mehr arbeiten mussten, dass sie schlechter bezahlt wurden, und all die anderen Demütigungen des Alltags …

 

Ich frage mich, was für ein politisches Selbstbewusstsein oder auch Empowerment erzeugen solche Projekte, wie ihr sie macht, dass die jüngere Generation plötzlich benennen kann, dass es Rassismus gibt. Dass das nicht nur einen Namen bekommt, sondern aus einer erfahrenen auch eine aussprechbare Realität wird.

Ich selbst habe zwar auch eine Migrationsbiografie, aber bin nicht in Deutschland geboren und habe selbst auch keinen Vertragsarbeitenden- oder Gastarbeitenden-Hintergrund. Ich glaube, was auch durch die Ausstellung sehr deutlich wird, ist, dass in einem unserer Ausstellungsstücke “Sorge 87” von Thanh Nguyen Phuong, sie selbst als Kind von Vertragsarbeiter:innen mit ihren Eltern ins Gespräch kommt. Ich denke, das ist der erste Schritt, um überhaupt anzufangen, darüber zu sprechen, wie es damals war. Durch die Erzählungen wird rückwirkend vieles anders sichtbar, als im Moment des Ankommens. Damals hatte man auch einfach ganz andere Sorgen, wie das Erlernen der Sprache, die Suche nach Arbeit, und die rechtliche Lage sah damals auch anders aus. Vieles hat sich zum Glück verändert, aber vieles auch nicht.

Der gesellschaftspolitische Diskurs darüber hat sich aber erheblich verändert. Junge Menschen sind heute viel sensibler für Rassismus. Man weiß darüber mehr, man spricht darüber auch vermehrt in der Schule. Das befördert alles einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Prozess, um Fragen zu stellen, sich auszutauschen und auch den Eltern zuzuhören, ihre Erfahrungen zu verstehen und sich trotz der unterschiedlichen Perspektiven auf diese Geschichten zu “versöhnen” – selbst wenn das Sprechen darüber auch in den Familien erst gelernt werden muss.

 

Das kann dann häufig ein schmerzhafter Prozess der innerfamiliären Auseinandersetzung der Generationen sein, zwischen Kindern, die vielleicht die Universität absolviert haben und die Traumata ihrer Familiengeschichte aufarbeiten wollen, und Eltern, die sich umgekehrt vielleicht nicht mehr mit den Demütigungen der Vergangenheit befassen möchten. Wie kann da ein Gespräch entstehen?

Ich glaube, dass oft erst einmal Frust und Wut entstehen, besonders bei jenen, deren Eltern Rassismus nicht offensichtlich wahrnehmen oder benennen können. Das ist natürlich für die Kinder oft unverständlich, weil sie rassistische Erfahrungen auch gegenüber ihren Eltern erfahren haben. Ich finde jedoch, dass wir der älteren Generation ihre Perspektive lassen müssen. Es ist schwierig, unseren eigenen Diskurs und unsere Sichtweisen heute einfach über ihre Erfahrungen zu stülpen. Wir müssen ihnen ihre Erfahrung und den Umgang damit einfach zugestehen.

Ich würde jedoch eher den Fokus nach außen verlagern oder zumindest den Konflikt. Wir sollten Räume schaffen, in denen zukünftig Geschichten archiviert werden, damit diejenigen, die sprechen möchten, aber auch andere, die es nicht möchten, Zugang zu diesen narrativen und emotionalen Ressourcen bekommen. Es geht dabei schließlich um unser kollektives Wissen, um das “Retelling”, das Neu-, Wieder- und Umerzählen von Geschichten, wer sie wie, wann, wo und warum erzählen kann und wie wir letztlich Geschichte in unserem Sinne neu schreiben können. Vor allem auch hier in Ostdeutschland, wo Geschichte für viele Menschen nicht erzählbar ist.

Lied “Es kamen Menschen an” (1984) von Cem Karaca

 

Du sprichst ja auch sehr bewusst von Gastarbeiter:innen in der BRD und Vertragsarbeiter:innen in der DDR. Viele Menschen, die im Westen sozialisiert wurden, haben keine Ahnung davon, dass es im Osten migrantische Vertragsarbeiter:innen gab. Und gleichzeitig gibt es in Ost und West dieses Phänomen, dass Debatten über Migration oder die “Einwanderungsgesellschaft” durch eine Erzählung von oben beherrscht werden. Und dann diskutiert das Land bis zum Sanktnimmerleinstag darüber, ob man nun ein Einwanderungsland ist oder nicht. Während gleichzeitig Migrant:innen hier seit langem ihren Lebensmittelpunkt haben und trotzdem nicht als vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt werden. Und auch bei rechten Anschläge erleben wir immer wieder, wie das Erinnern von oben bestimmt wird und den Betroffenen selbst häufig keine Stimme gegeben wird. Und in Ostdeutschland hat das alles nochmal ein anderes Konfliktpotenzial, weil hier so viele Menschen das Gefühl haben, dass ihre Erinnerungen und Traumata nicht aussprechbar sind. Wie rüttelt man da an den Verhältnissen?

Ich habe schon das Gefühl, dass Migrant:innen in Ostdeutschland noch mehr das Bedürfnis haben, die eigene Biografie aufzuarbeiten. Es informieren sich in den letzten Jahren immer mehr, es gibt mehr Begegnung, Austausch und Vernetzung. Und da geht es immer auch um die Unterschiede in den Leben von Migrant:innen in Ost und West, wo die Mehrheitsgesellschaft und auch die Zivilgesellschaft im Osten doch nochmal deutlich weißer ist. Aber die Debatten hier werden teilweise anders geführt, als im Westen oder in Großstädten wie Berlin. Die migrantischen Communities sind hier alleine schon deutlich kleiner. Und gerade deshalb leisten viele migrantische Aktivist:innen, die hier dann entsprechend in kleinerer Zahl vertreten sind, aus ihrer eigenen Betroffenheit und Geschichte heraus unter erschwerten Bedingungen besonders wichtige Arbeit.

 

Welche Bedeutung hat da die stärkere Präsenz von Rechtsradikalismus und die reale existenzielle Bedrohung durch rechte Gewalt und Anschläge, wenn Menschen und insbesondere jene Migrant:innen hier in Ostdeutschland und Sachsen ihre Stimme erheben möchten, um sich im Kollektiv weniger alleine zu fühlen und gemeinsam zu organisieren, zu empowern und zu supporten?

In einem Umfeld zu arbeiten, in dem der Rechtsruck voranschreitet und der NSU sich wohlfühlt, bedeutet natürlich, dass man oft auf Widerstände stößt. Was unsere Wanderausstellung zum Beispiel angeht, hat dies in Sachsen teilweise dazu geführt, dass sie an manchen Orten aufgrund politischer Entscheidungen verhindert wurde. Und es wird hier definitiv auch schwieriger, die Leute davon zu überzeugen, warum ein Erinnerungsort für die Betroffenen des NSU-Komplexes wichtig ist, warum Aufklärung wichtig ist, warum die Auseinandersetzung mit Rassismus wichtig ist.

Und das liegt nicht nur daran, dass hier mehr rechtes Gedankengut normalisiert ist oder rechte Terrorzellen wie “Revolution Chemnitz” hier existieren. Es liegt auch daran, dass der öffentliche Diskurs von wenigen stark dominiert wird. Das merkt man auch immer wieder bei Veranstaltungen, insbesondere in Chemnitz, wenn zum Beispiel rechte Stadträte eine Veranstaltung stören. Da ist ihnen Aufmerksamkeit sicher. Man ist dadurch immer in der Reaktionshaltung und muss sich damit beschäftigen, was Rechte vorgeben oder wie man sich dagegen zur Wehr setzen kann.

Und dann ist da natürlich permanent das reale Bedrohungsszenario, das ich persönlich kaum noch wahrnehme, weil ich es einfach gewohnt bin. Für mich ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass bei Veranstaltungen ein Sicherheitskonzept vorhanden ist. Dass man Security-Personal braucht, das auf bekannte rechte Gesichter achtet, dass man Personen begleitet, damit ihnen auf dem Weg nichts passiert. Das ist hier irgendwie zur Normalität geworden. Und es gibt oft genug Vorfälle, die immer wieder eine Katastrophe darstellen. Und da rede ich noch nicht einmal von der Situation in ländlichen Räumen. Mein allergrößter Respekt gilt den Menschen, die dort noch politische Bildungsarbeit leisten, wo sie noch mehr Repressionen und Gefahren ausgesetzt sind.

 

Wenn Du an den zukünftigen sozialen Erinnerungsort denkst, was macht dich eigentlich einerseits optimistisch und anderseits pessimistisch, dass das, was Ihr gemeinsam mit vielen Initiativen, Gruppen und Betroffenen gerade entwickelt, tatsächlich im Rahmen des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2025 verwirklicht wird?

Optimistisch macht mich vor allem, dass doch sehr viele Angehörige und Betroffene mit uns gesprochen haben, dass deren Perspektive im Vordergrund steht, dass der Wunsch nach politischer Bildungsarbeit da ist. Und dann gibt es natürlich bundesweit Initiativen und Akteur:innen, aber auch hier in Sachsen und Chemnitz natürlich, die sich dafür einsetzen und uns unterstützen.

Pessimistisch macht mich vor allem die politische Situation. Die Zusammensetzung des Chemnitzer Stadtrats wird nach den Kommunalwahlen 2024 sicherlich nicht besser werden. Und dann braucht es umso mehr Menschen, die sich für diese Idee verantwortlich fühlen. Wir entwickeln zwar das Konzept und stellen es der Stadtgesellschaft zur Verfügung, aber so ein Raum muss von unten aus der Zivilgesellschaft gewollt sein, um möglichst viele Menschen davon zu überzeugen. Denn nur so haben wir auch die Macht, das durchzusetzen, was wir gemeinsam mit den Betroffenen entwickeln, damit es nicht politisch verwässert und finanziell angemessen ausgestattet wird. Denn das schaffen wir einfach nicht alleine.

Ich muss notgedrungen an meine Gespräche mit dem Künstler und Aktivisten Ulf Aminde denken, der in Köln seit Jahren mit den Betroffenen des NSU-Anschlags in der Keupstraße und Aktivist:innen um die Realisierung des von ihm entworfenen Mahnmals “Herkesin Meydanı – Platz für Alle” kämpft. Der Kampf gegen private Immobilieninvestoren, untätige Stadtpolitiker:innen und eine noch untätigere Verwaltung dauert an. Ohne die migrantische Zivilgesellschaft und ihre Verbündeten wäre er jedoch schon von Anfang an verloren gewesen. Und so frage ich mich, während ich Zeran zuhöre, wie gut die Chemnitzer Zivilgesellschaft und die lokalen migrantischen Communities auf diesen Kampf vorbereitet sind.

 

Was sind Eure Forderungen, hinter denen Ihr die Zivilgesellschaft in Sachsen und Chemnitz vereinen möchtet?

Die Ausgangsfrage ist immer: “Für wen machen wir das eigentlich?” Es geht zunächst, wie schon bei “Offener Prozess”, darum, dass wir das Zuhören und Erzählen als politische Bildungspraxis begreifen, das heißt Menschen zuzuhören, die es am eigenen Leib betrifft, und ihren diversen Erfahrungen und Geschichten Raum für ihre Erzählungen zu geben. Dann geht es um Partizipation und Inklusion, indem die Betroffenen von Anfang bis Ende – vom Konzept bis zur konkreten Praxis des Gedenkens und Erinnerns – mitbestimmen und als Expert:innen aus ihren Perspektiven politische Aufklärungs-, Kultur- und Bildungsarbeit leisten können.

Nur so kann das Erinnern an die Opfer des NSUEnver Şimʂek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taʂköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaʂar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaʂık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – würdevoll gelingen. Und dafür müssen die Namen immer wieder genannt und ins Gedächtnis gerufen werden. Nicht zu vergessen die Überlebenden der Anschläge.

Die Opfer des NSU und die zentrale Forderung der Angehörigen und Verbündten

Viele Angehörige wünschen sich auch, dass so ein gesellschaftspolitisch bedeutungsvoller Erinnerungsort natürlich auch an einem zentralen Platz gelegen wäre, der nicht irgendwo an den Rand in die Unsichtbarkeit verdrängt ist. Und neben dieser baulichen Anerkennung, fordern wir auch ein politisches Symbol, nämlich dass die Politik Verantwortung übernimmt und die Familien der Opfer und die Betroffenen um Entschuldigung bittet. Denn das wäre ein eindeutiges Bekenntnis, dass man es ernst meint.

Mir klingen noch die Namen der Opfer des NSU nach, die Zeran mir wieder in Erinnerung gerufen hat. Als sie die Namen der Toten einzeln ausspricht und mich eine tiefe Berührung ergreift, höre ich nicht nur die Erinnerung an die politische Verpflichtung, diese Menschen nicht zu vergessen, sondern auch die Wiedererinnerung an unseren gesamtgesellschaftlichen Auftrag, eine Gesellschaft der Vielen aufzubauen, in der diese Namen uns nicht fremd sind und ihr Tod nicht verschwiegen wird.

 

Was ist dringend zu tun, damit dieser Kampf für die Rechte von Migrant:innen und gegen rechten Terror erfolgreich sein kann? Wo so ein zukunftsorientierter Erinnerungsort und eine Gesellschaft der Vielen ohne diese menschenfeindliche Ideologie Wirklichkeit sein könnte … 

Eine Gesellschaft ohne Migration ist für mich nicht vorstellbar, und diesen Fakt gilt es auch gesamtgesellschaftlich endlich anzuerkennen. Menschen, die Diskriminierung und Gewalt erfahren, müssen aber auch so sicher leben können, dass sie keine Angst haben müssen, anders zu sein. Wir müssen uns in der Öffentlichkeit treffen, ermächtigen, unterstützen, bilden und vernetzen können.

Dabei geht es auch um das politische Aushandeln von Differenzen und Interessen, die wir miteinander teilen, die aber in einem geschützten Rahmen geführt werden müssen. Und wir müssen lernen, wie wir die Gräben zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen von Rassismus und Diskriminierung überbrücken können. Wenn uns das nicht gelingt, brauchen wir uns nicht über so gruselige Ereignisse wie in Chemnitz 2018 zu wundern.

About the contributor

Zeran Osman
Ausstellungsleitung und Projektmitarbeit bei Offener Prozess & re:member the future des ASA-FF e.V.

Als gebürtige Kurdin wächst Zeran in Halle (Saale) auf und absolviert dort neben einem freiwilligen sozialen Jahr eine Ausbildung als Eventmanagerin. Anschließend zieht sie nach Chemnitz und studiert an der TU Chemnitz im Bachelor/Master Interkulturelle Kommunikation. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören (Anti-)Rassismus, Postkolonialismus, Integrations- und Migrationsforschung, migrantisches Leben in Chemnitz und (Raum-)Soziologie. Seit 2015 engagiert sie sich im Bereich Migration und Integration in Chemnitz, hielt die Abschlussrede der Graduationsfeier der TU Chemnitz und war Teammitglied der Kulturhauptstadtbewerbung Chemnitz 2025. Im Verein ASA-FF e.V. arbeitet sie derzeit für die Projekte Offener Prozess, re:member the future und an der Entstehung eines Interims-Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex.